Die Kunst des Küssens
Morgen ist wieder Welttag des Kusses. Das kann man albern finden. Oder zum Anlass nehmen, sich die Schönheit, die Geschichte und die vielfältige Bedeutung dieser Berührung vor Augen zu führen
Blöd jetzt. Weil: In Worte ist der Kuss am schwierigsten zu fassen. Nicht selten ist dessen Beschreibung darum Thema in Autorenwerkstätten. Womöglich aber hat da der ehrwürdige Dante vor 700 Jahren schon den schönsten Weg gefunden. In der „Göttlichen Komödie“beschreibt er den Moment, als Paolo und Francesca zueinanderfinden: Das Buch liegt, aus der willenlos gewordenen Hand gefallen, unbeachtet am Boden, und diese beiden Menschen, die sich über zögerlich zaghafte Schritte annähern, fast als wollten sie es vor sich selbst verheimlichen: „An jenem Tage lasen wir nicht weiter…“Gerade das „…“ist wichtig. Die bebenden Lippen, das Herzrasen, alles liegt darin.
Im Duden dagegen steht: „[sanft] drückende Berührung mit den [leicht
gespreizten, leicht geöffneten] Lippen (als Zeichen der Zuneigung od. Verehrung, zur Begrüßung o.Ä.).“Ja, genau „o. Ä.“. Und ähnlich wirkt zunächst auch diese Beschreibung: „Sie hat ihr Haupt völlig über das seinige geneigt und heftet nun ihre Lippen zu einem langen Kusse auf seinen Mund.“Aber das ist ja nur eine szenische Anweisung, von Richard Wagner. Dass dann beim Realisieren dieser Berührung hinreichend Drama entsteht, „als Muttersegens letzten Gruß, der Liebe ersten Kuss“zwischen Wagners Parsifal und seiner Kundry, dessen darf sich der Opernbesucher gewiss sein.
Und so scheint sie eben auf, die Übermacht des Bildlichen beim Küssen, zu dem die meisten Menschen als Beteiligte ja die Augen schließen. Wer aber als Unbeteiligter fühlen will, kriegt leichter und vor allem reichlich was zu sehen. Die Bilder dieser Seite etwa stammen aus einer Ausstellung im Berliner Bröhan-Museum, die die Darstellungen des Kusses zum Thema hat. „Eine kleine Geste und eine große Inspiration für die Kunst“, heißt es da. Und: „Kaum ein Ritual unserer Kultur, von dem eine so große Faszination ausgeht. Gerade die Vielseitigkeiten und Ambivalenzen…“
Von klassischer Romantik bis zur sexuellen Selbstbestimmung – der Kuss kann für vieles Ikone sein. Und so sieht man in Berlin vieles zwischen Auguste Rodin und Marina Abramovic, auch Bob Dylan, wie er Joan Baez küsst. Das wohl berühmteste Bild namens „Der Kuss“aber bleibt freilich das golden leuchtende Gemälde von Gustav Klimt, hübsch dekorativ längst über alle Zeit hinweg. Der meist dargestellte Einzelkuss der Geschichte indes bleibt ein ohnehin überzeitlicher, so gar nicht romantischer: der biblische Judaskuss beim Verrat an Jesus. Im Bröhan aber hängt ein Foto, das, 2005 entstanden, küssend ins Herz der Gegenwart schneidet: Im Birkenwäldchen knutschen zwei russische Soldaten. Bildlich nah und doch inhaltlich unendlich fernliegt da eine Polit-Ikone, ebenfalls russisch: der im Mauer-Graffiti verewigte Bruderkuss zwischen Breschnew und Honecker 1979. Eine andere Abzweigung aus dem Birkenwäldchen führt dagegen zu einem berühmten Kuss der PopGeschichte, 2003: Madonna und Britney Spears züngelten auf der weltweiten Bühne von MTV, live, skandalös. Im Kuss begegnet sich vieles – aber bewegt er nur noch als Provokation? Bis heute kommt keiner der erfolgreichen Filme ohne den romantischen Kuss aus. Was bei Clark Gable und Vivien Leigh in „Vom Winde verweht“wirkte, fehlte auch bei Leonardo DiCaprio und Kate Winselt an der Bugspitze der „Titanic“nicht – und auch „Avatar“brauchte zur großen Versöhnung zwischen Mensch und Natur: den Kuss. Oder sind es eben deshalb die erfolgreichsten Filme, weil eine romantische Spannung in ihnen liegt, die im Kuss kulminiert? Liebe und Drama, Baby!
Die mit Abstand meisten wirklichen Küsse sind dagegen weder provokativ noch dramatisch, sondern Gewohnheit, standardisiertes Treffen der Lippen. Hallo und Gut’ Nacht. Ein „…“gibt es nur, insofern darin sprachlos-ritualisiert die Gültigkeit einer Beziehung Bestätigung findet. In der Leidenschaft des Kusses aber ist es wie in der Kunst, bestenfalls: Es drückt sich das Selbst darin aus; wird spürbar erst im Gegenüber, Kommunikation von Herz und Seele. „An jenem Tage lasen wir nicht weiter…“? Oh, doch! Nur anders, und wie! Also: Augen zu … O
Ausstellung „Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan“läuft noch bis 3. Oktober im Bröhan Museum in Berlin, www.broehan museum.de