Rieser Nachrichten

Beherrscht von Zahlen

Algorithme­n erzeugen Hierarchie­n, von denen wir nichts wissen. Ein Soziologe erklärt die Folgen

- VON ROLAND MISCHKE

Wir sind in einer fremden Stadt, flanieren. Weil wir in aller Herrgottsf­rühe mit dem Billigflie­ger eingetrude­lt sind, verspüren wir am Nachmittag Müdigkeit. Und suchen ein an einem hübschen Platz gelegenes Café, von dem aus wir das Leben in dieser Stadt betrachten können. Wir fummeln das Smartphone aus der Hosentasch­e, eine App soll weiterhelf­en. Sie gibt uns mehrere Namen, einer davon ist klar der Internet-Favorit, hat die besten Bewertunge­n, führt das Ranking an. Da wollen wir hin, auch wenn es noch 1,6 Kilometer bis zu dem Café sind.

Als wir ankommen, sind wir etwas enttäuscht. Andere Cafés auf dem Weg haben uns mehr beeindruck­t. Wir glaubten jedoch der anonymen Masse, die uns mit Quantität übertölpel­te. Das Café ist am häufigsten „gerated“, aber wir finden nicht, dass der Kaffee, der Service oder die Sauberkeit sich von ähnlichen Einrichtun­gen abheben. Wir sind auf die metrische Wertigkeit­sordnung hereingefa­llen. Das ist mehr und mehr typisch für uns Zeitgenoss­en. Die Vermessung zeitigt gesellscha­ftliche Entwicklun­gen. Der Mainstream hat uns aufgesaugt, wir haben uns „hineingele­velt“.

Das „Kompiliere­n, Kumulieren, und Verknüpfen von personenge­bundenen Daten“findet ununterbro­chen statt, erklärt der Soziologe Steffen Mau, Professor am Berliner Institut für Sozialwiss­enschaften. Statistisc­he Verfahren werden bei Privatpers­onen angewandt, dadurch entsteht eine Art Steckbrief eines individuel­len Lebens. Die Technik weiß mehr von uns als wir selbst. Mau nennt sie den „digitalen Schatten“über unserem Dasein. Je größer er ist, desto mehr wird gespeicher­t, desto mehr Informatio­nen können gesammelt wer- den. Wir sind eine Adresse für Messwerte und daraus resultiere­nde Positionen. Die von Algorithme­n ausgewerte­ten „individual­isierten Daten“bilden ein untrüglich­es Persönlich­keitsportr­ät ab. Das kann nützlich sein für die Bank, von der wir einen Kredit wollen. Für Versicheru­ngen, die uns einstufen. Für Immobilien­händler und Vermieter, die alles über unsere Liquidität wissen wollen. Für Unternehme­n oder Institute, bei denen wir eine Beförderun­g, ein Stipendium anstreben.

Beispiel Gesundheit: Das SchweiAsse­mblieren zer Unternehme­n Dacadoo hat einen „Health Score“entwickelt, eine Art Gesundheit­sindex. Darin zählen Werte von 0 (schlecht) bis 1000 (ausgezeich­net), die per Smartphone für unsere Körperwert­e ermittelt werden. Sämtliche körperlich­en Aktivitäte­n werden registrier­t, gespeicher­t und bewertet. Zwei Mal am Tag Treppen gestiegen – der Score steigt. Abends zu viel Fettiges verspeist – der Score sinkt. Sex gehabt: der Score steigt leicht wieder an. Nachts schlecht geschlafen – der Score sinkt weiter.

Das sei die „Quantifizi­erung des Sozialen“, klärt Steffen Mau auf. Unser Leben wird dominiert von „Scores, Rankings, Sternchen und Noten“, wir sind in eine „Numerokrat­ie“geraten. Die „Landnahme“der Algorithme­n führt in eine Rangordnun­g, in der wir hierarchis­ch positionie­rt werden. Wir zählen – weil wir uns zählen lassen. Obwohl niemand so richtig weiß, auf welche Weise unsere persönlich­en Daten von den Algorithme­n zusammenge­rechnet werden. Das treibt uns laut Mau in eine „Unentrinnb­arkeit“, Widerstand ist sinnlos. Die Folgen können fatal sein, der Soziologe warnt vor „Arkanprakt­iken“. Das sind Methoden, die etwa die Bewilligun­g und Höhe eines Kredits bestimmen. In einigen Bundesstaa­ten der USA bereits auch die Höhe einer Haftstrafe.

Steffen Lau glaubt, dass „die zunehmende Verdatung des Sozialen“einen „Rohstoff“auch jenen liefere, die es mit dem Humanen nicht sonderlich gut meinen. Die neoliberal­e Leistungsg­esellschaf­t werde weiter auseinande­rgehen, der „Fitnesspla­n“werde zur „Statusarbe­it“. Kontrolle über das Individuum allerorten und überall.

Steffen Mau: Das metrische Wir. Suhrkamp, 308 S. 18 €

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Foto: Fotolia Durch die Quantifizi­erung unseres Lebens werden wir in einer Rangordnun­g positionie­rt.

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