Rieser Nachrichten

Heimatgefü­hle

Es ist nur ein Fußballsta­dion. Nur? In Giesing, wo angeblich noch echte Münchner leben, ist das „Grünwalder“ein Mythos. Weil der TSV 1860 dort seine Wurzeln hat. Heute kehren die Löwen zurück. Was Anwohner und Kneipenwir­te ziemlich nervös macht

- VON TILMANN MEHL

Mit der Heimat ist es so eine Sache. Keiner kann sie sich aussuchen. Manch einer hadert mit ihr, viele sind stolz auf sie, und dann gibt es noch jene, die sie verloren haben. So wie der TSV 1860 München. Jener Fußballver­ein, der sich selbst im Herzen Münchens verortet. Dieser Klub, der sich mitsamt seiner Anhänger immer und immer wieder vom Schicksal benachteil­igt sieht. Dass die stolzen Löwen über Jahre hinweg im Stadion spielen mussten, das doch dem vermögende­n und ungeliebte­n FC Bayern gehört, hat die 60er mehr getroffen als fatale Vereinspol­itik oder Abstiege.

Nun kehren die Vertrieben­en zurück in ihre Heimat. Zurück auf Giesings Höhen, ins städtische Stadion an der Grünwalder Straße. Das „Grünwalder“, wie der Löwe sagt. Dafür hat es den absoluten sportliche­n Niedergang gebraucht, einen Abstieg aus der zweiten Liga samt Lizenzverw­eigerung. Nun also Regionalli­ga Bayern, vierte Liga. Immerhin dürfen sie wieder im 1911 errichtete­n Grünwalder spielen.

Es ist nicht nur der Wechsel der Spielstätt­e. Die Löwen kehren zurück in ihr ureigenes Viertel. Denn nichts anderes ist Giesing. Die westliche Grenze bildet die Wittelsbac­her Brücke. Jene Querung der Isar, die vielen Münchnern aus Warnungen ihrer Eltern bekannt ist. Diese lauten in etwa so: Wer sich in der Schule nicht anstrengt, landet unweigerli­ch unter der Wittelsbac­her Brücke. Hier schlafen die Heimatlose­n, die Obdachlose­n.

Auf der anderen Seite Giesings bildet der Ostfriedho­f die Grenze. Letzte Ruhestätte „echter“Münchner. Die ehemaligen Oberbürger­meister Georg Kronawitte­r und Karl Scharnagl sind hier begraben, aber auch das opulente Original Rudolph Mooshammer und die 60erLegend­e Rudolf Brunnenmei­er.

Zwischen Wittelsbac­her Brücke und Ostfriedho­f tummeln sich Obstläden, Sonnenstud­ios und Kneipen mit Namen wie Trepplerwi­rt oder Speis Girls. Dazwischen: Internetlä­den, Nagelstudi­os und Werkzeugma­cher. Münchner Grantler und hipper Szene-Nerd wohnen Tür an Tür. Weil hier der Wohnraum wenigstens manchmal noch bezahlbar ist. Klar, für eine Dreizimmer­wohnung mit 75 Quadratmet­ern sind auch hier 1400 Euro Kaltmiete fällig. Aber es gibt eben auch die alten Wohnhäuser. Jene, die noch nicht luxussanie­rt wurden. Die Gentrifizi­erung schreitet hier langsamer voran als in den anderen Vierteln.

Die Einheimisc­hen haben sich über Generation­en Gleichmut antrainier­t. Warum sich lange über Veränderun­gen ärgern, wenn man doch sowieso nichts ändern kann? Hier passen die Löwen hin. Trotzdem werden sie nicht vom komplet- ten Viertel willkommen geheißen. „Ich habe eher Befürchtun­gen, dass was passieren könnte“, sagt Franz Huber. Der 72-Jährige sitzt gestern Nachmittag vor einem Lokal, das mit seinem Namen „Die kleine Kneipe“exakt widerspieg­elt, was man erwarten kann. Huber wohnt in Sichtweite zum Grünwalder Stadion. Von seiner Wohnung kann er auf die Flutlichtm­asten der Arena schauen. Er hat erlebt, wie in den vergangene­n Jahren Löwen-Fans und Anhänger des FC Bayern große Polizeiein­sätze auslösten, als noch die zweiten Mannschaft­en der Vereine aufeinande­rtrafen. Zwei Mal im Jahr Ausnahmezu­stand.

Jetzt treten die „großen“60er alle zwei Wochen zu Hause an. Heute Abend, 19 Uhr, zum ersten Mal seit 2005 wieder. Die 12 500 Karten für die Partie gegen Burghausen waren schnell weg. Auch für alle weiteren Spiele wird ein volles Stadion erwartet. Parkplätze gibt es kaum, die Fans sollen mit Tram und U-Bahn anreisen. Aufgrund der Befürchtun­gen der Anwohner hat die Stadt einen Informatio­nsabend veranstalt­et. Die Turnhalle an der Säbener Straße – Heimatadre­sse des FC Bayern – war für 1000 Interessie­rte bestuhlt. Gekommen sind 150. Warum ärgern, wenn nichts zu ändern ist?

Sie arrangiere­n sich mit den Löwen. So, wie man es eben mit einem Nachbarn macht. Selbstvers­tändlich freuen sich auch einige über die Rückkehr nach Giesing. An erster Stelle natürlich die Fans, die es mit den Blauen halten. So wie Thomas Büche. Der 35-Jährige braucht zu Fuß zehn Minuten ins Stadion. „Das gibt es sonst ja fast nirgendwo mehr: Ein Stadion mitten in der Stadt.“

Tatsächlic­h werden sämtliche Stadien heutzutage in der Peripherie errichtet. Nur dort sind ausreichen­d Baugrund und Parkplätze vorhanden. Das Grünwalder Stadion aber ist das Herz des Viertels. Davon profitiere­n auch die umliegende­n Kneipen und Restaurant­s. Sie können schließlic­h zweiwöchen­tlich mit einem enormen Umsatzanst­ieg rechnen. Löwen sind durstig.

Der Wienerwald ist die letzte Möglichkei­t vor dem Stadion, um noch ein Bier zu trinken. Das Restaurant ist nur durch eine Straße davon getrennt. Pächterin Amela Skrbo-Bauer begrüßt ihre Stammgäste auch dann noch mit einem „Schätzlein“, wenn die schon altersmäßi­g weit in den 70ern stehen. „Das sollen Fußballfes­te werden. Die Fans freuen sich wahnsinnig – und wir auch.“An Spieltagen stockt sie das Personal um sechs Personen auf 26 auf. Der halbe Liter Bier kostet vier Euro, die 180 Sitzplätze in Innenraum und Biergarten werden komplett besetzt sein. Selbst in den Durchgänge­n werden sie stehen.

Es wird dann so sein wie noch Mitte der 90er Jahre. Damals traten die Münchner letztmals regelmäßig im Grünwalder an – die Saison nach dem Erstligaab­stieg 2004 ausgenomme­n. Andreas Hartig kann sich noch gut daran erinnern. Er spielte in der Saison 1993/94 zehn Mal für den TSV 1860. In dieser Spielzeit stiegen die Blauen in die erste Liga auf. Hartig hatte zuvor schon mit Türk Gücü München und den Amateuren des FC Bayern hier gespielt. Die Partien mit den Löwen aber sind etwas Besonderes. „Da wird dir schon anders, wenn du weißt, dass da 30 000 Wahnsinnig­e warten“, sagt der 46-Jährige.

Na ja, 30 000 waren mal. Heute dürfen eben maximal 12 500 rein.

Neben den Fans sind Hartig vor allem die sanitären Anlagen und die Spielfläch­e in Erinnerung geblieben. „Nur St. Pauli hatte schlimmere Duschen. Wenn du die Badeschlap­pen vergessen hast, hast du besser nicht geduscht. Aber der Rasen war schon sensatione­ll.“Die Duschen wurden mittlerwei­le saniert, der Rasen entspricht immer noch höchsten Ansprüchen. Darum kümmert sich mittlerwei­le Günther Kaiser, der Stadionbea­uftragte der Stadt München. Der 51-Jährige ist dafür zuständig, dass am Spieltag alles

„Die Fans freuen sich wahnsinnig – und wir auch.“A. Skrbo Bauer, Wienerwald Chefin „Der Blick ist schon sensatione­ll.“Günther Kaiser, Stadion Manager

reibungslo­s abläuft. Er muss aufpassen, dass Sponsorenb­anner an der richtigen Stelle aufgehängt werden, und spricht sich mit den vielen Handwerker­n ab, die noch zu tun haben. Die endgültige Rückkehr stand erst spät fest. Nebenbei kümmert er sich auch um die Bezirksspo­rtanlagen Münchens. Wenn irgendwo ein neues Tor gebraucht wird, ist er der Mann dafür.

Dass die erste Mannschaft der Löwen wieder im Grünwalder Stadion spielt, sieht er pragmatisc­h. Schließlic­h musste er sich auch schon um die Abläufe kümmern, als hier noch die Amateure spielten. 70 Partien wurden vergangene Saison in dem alten Bau ausgetrage­n: Frauen, Junioren, Amateure. Ohnehin hält er es eher mit dem FC Bayern. Die ewige Sehnsucht nach dem Grünwalder Stadion kann er nur bedingt verstehen. Auch er weiß, dass andere Stadien deutlich mehr Komfort liefern. Dass wohl nur hier Journalist­en auf dem Weg zur Pressekonf­erenz Gefahr laufen, sich den Kopf an einem Betonpfeil­er aufzuschla­gen. Wenn er aber unter der Anzeigetaf­el steht, dort, wo die größten Fans ihren Platz haben, dann räumt auch er ein: „Der Blick ist schon sensatione­ll.“Das Spielfeld, die Wohnhäuser im Hintergrun­d, die Spitze der Heilig-KreuzKirch­e. Wer hier steht, ist der König von Giesing.

Ab heute werden sie hier wieder anfeuern, schimpfen, fluchen und jubeln. Die Grantler, die Ultras, die ganz normalen Fans des TSV 1860 München. Die Löwen sind wieder zurück. Zurück in der Heimat.

 ?? Archivfoto: Action Pictures, imago ?? Münchner Wohnzimmer: Wo gibt es das heute noch? Von ihren Dachfenste­rn aus können die Anwohner heute Abend die Heimkehr der Löwen verfolgen. Manche werden Fähn chen schwenken, anderen werden die Tränen kommen – so oder so. Und einige finden sogar: Das...
Archivfoto: Action Pictures, imago Münchner Wohnzimmer: Wo gibt es das heute noch? Von ihren Dachfenste­rn aus können die Anwohner heute Abend die Heimkehr der Löwen verfolgen. Manche werden Fähn chen schwenken, anderen werden die Tränen kommen – so oder so. Und einige finden sogar: Das...
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