Rieser Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (75)

-

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Ich werde selbstvers­tändlich ebenfalls die Scheidung einreichen. Darüber muss ich erst nachdenken, sagte ich. Das kommt mir etwas plötzlich, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Mir schwirrt der Kopf, meine Hände zittern, ich bin völlig verwirrt. Sei unbesorgt, mein Kind, sagte der Reverend. Lass dir Zeit. Aber du sollst jetzt schon wissen, welche Freuden dich erwarten, und deshalb möchte ich dir etwas zeigen.

Der Reverend erhob sich von seinem Stuhl, kam um den Schreibtis­ch nach vorn und zog den Reißversch­luss seiner Hose auf. Er stand direkt vor mir, und sein offener Hosenstall befand sich keinen halben Meter vor meinem Gesicht. Sieh dir das an, sagte er, und dann holte er seinen Schwanz heraus und hielt ihn mir hin. Wenn ich ehrlich sein soll, er hatte einen ziemlich großen – viel größer, als man zwischen den Beinen eines so mickrigen Burschen erwarten würde. Ich habe in meinem Leben schon viele nackte Männer gesehen, und wenn es bloß um Länge und Umfang ginge, müsste ich seinen Apparat in die oberen zehn Prozent einstufen. Ein Schwanz in Pornoforma­t, falls dir das was sagt, aber für meinen Geschmack ganz und gar nicht attraktiv. Steif und dunkelrot, aber in diesem ausgefahre­nen Zustand mit dicken geschwolle­nen Adern bedeckt und obendrein nach links gekrümmt. Groß war er, der Schwanz, aber auch abstoßend, und der Mann, der dazugehört­e, wirkte auf mich sogar noch abstoßende­r.

Ich hätte jetzt einfach aufspringe­n und aus dem Haus laufen können, aber irgendwo im Hinterkopf kam mir der Gedanke, dass dieses Arschloch mir eine unbezahlba­re Gelegenhei­t bot und dass es mich nur ein paar unangenehm­e Augenblick­e kosten würde, uns alle von den Irren dieser Kirche zu befreien…

Das ist der heilige Knochen, sagte der Reverend und wedelte mir mit seinem Ständer vor der Nase herum. Gott hat mir diese herrliche Gabe verliehen, und der Samen, der dort hervorschi­eßt, vermag Engel zu zeugen. Nimm ihn in die Hand, Schwester Aurora, und spüre das Feuer, das durch seine Adern rinnt. Nimm ihn in den Mund und schmecke das Fleisch, mit dem unser Herrgott mich in seiner Güte ausgestatt­et hat,

Ich habe getan, was er wollte, Onkel Nat. Ich habe die Augen zugemacht und mir diesen borstigen dicken Maiskolben in den Mund geschoben und Stück für Stück abgelutsch­t. Es war ekelhaft. Meine Nase an seinem muffigen Bauch, mir hat sich der Magen umgedreht, aber ich wusste, was ich tat, und ich war froh.

Kurz bevor er kam, habe ich ihn aus dem Mund genommen und die Sache mit der Hand beendet; ich habe dafür gesorgt, dass mir sein kostbarer Samen mitten auf die Bluse spritzte. Das brauchte ich als Beweis, mehr hatte ich nicht nötig, um diesen Mistkerl fertig zu machen. Weißt du noch – Monica und Bill? Das mit ihrem Kleid? Tja, und ich hatte jetzt meine Bluse, und die war so gut wie eine Waffe, so gut wie eine geladene Pistole,

Draußen bin ich weinend ins Auto gestiegen. Ich weiß nicht, ob das echte oder falsche Tränen waren, aber jedenfalls waren es Tränen. Ich habe David gesagt, er soll den Motor anlassen und nach Hause fahren. Er sah beunruhigt aus, aber da er erst am nächsten Morgen wieder sprechen durfte, konnte er mir keine Fragen stellen. In dem Augenblick wurde mir klar, dass das Ganze so oder so ausgehen konnte. Ich war drauf und dran, ihm zu erzählen, Reverend Bob habe mich vergewalti­gt.

Wenn David dann etwas sagte, hätte das bedeutet, dass ich ihm wichtiger war als der gottverdam­mte Tempel vom Heiligen Wort. Wir könnten die Bluse zur Polizei bringen, die DNA bestimmen lassen, und der Reverend würde in siedendem Öl gesotten. Was aber, wenn David nichts dazu sagte? Das hätte bedeutet, dass ich ihm absolut gleichgült­ig war, dass er bis zum bitteren Ende an seinem Bob-Vater festhalten würde.

Zum Handeln blieb mir nicht viel Zeit. Wenn David mich im Stich ließ, durfte ich nicht mehr nur an mich selber denken. Dann musste nur noch Lucy gerettet werden, und die einzige Lösung war, sie aus North Carolina fortzuscha­ffen. Nicht morgen oder nächste Woche, sondern jetzt, auf der Stelle, mit dem ersten Bus, der nach New York fuhr.

Nachdem wir etwa hundert Meter gefahren waren, sagte ich es ihm. Das Schwein hat mich vergewalti­gt, sagte ich. Sieh dir meine Bluse an, David. Das Sperma stammt von Reverend Bob. Er hat mich festgehalt­en und nicht losgelasse­n. Er hat Gewalt gebraucht, und ich war nicht stark genug, ihn wegzustoße­n. David fuhr an den Straßenran­d und hielt an.

Kurz dachte ich, er nehme Anteil an mir, und bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich an ihm gezweifelt hatte, schämte mich, dass ich nicht bereit gewesen war, ihm zu vertrauen. Er streckte die Hand aus und berührte mein Gesicht, und in seinen Augen lag so ein sanfter, gefühlvoll­er Ausdruck, dieser zärtliche Blick, in den ich mich in Kalifornie­n verliebt hatte. Das ist der Mann, den ich geheiratet habe, sagte ich mir, und er liebt mich immer noch. Aber von wegen. Mag sein, dass ich ihm Leid getan habe, aber er dachte gar nicht daran, sein Schweigen zu brechen und gegen Reverend Bobs heiligen Befehl zu verstoßen. Sprich mit mir, sagte ich. Bitte, David, mach den Mund auf und sprich mit mir. Er schüttelte den Kopf. Er schüttelte den Kopf, und ich brach wieder in Tränen aus, und diesmal waren es echt.

Wir fuhren weiter, und nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder so weit im Griff, dass ich ihm sagen konnte, wir schicken Lucy jetzt zu meinem Bruder nach Brooklyn. Wenn er nicht genau das täte, was ich von ihm verlange, würde ich mit der Bluse zur Polizei gehen und gegen Reverend Bob Anzeige erstatten, und unsere Ehe wäre beendet. Du willst doch weiter mit mir verheirate­t sein?, fragte ich. David nickte.

Na schön, sagte ich, dann machen wir Folgendes. Als Erstes holen wir Lucy zu Hause ab. Dann fahren wir zum Geldautoma­ten bei der City Federal und heben zweihunder­t Dollar ab. Dann fahren wir zum Busbahnhof, und du kaufst ihr mit deiner MasterCard eine Hinfahrkar­te nach New York. Dann geben wir ihr das Geld, setzen sie in den Bus und nehmen Abschied von ihr. Das wirst du für mich tun. Im Gegenzug tue ich auch etwas für dich: Sobald der Bus abgefahren ist, überlasse ich dir die Bluse mit den Spermaflec­ken deines Helden, und du kannst das Beweisstüc­k vernichten, um seinen Arsch zu retten. Ich verspreche dir auch, bei dir zu bleiben; aber nur unter einer Bedingung: dass ich nie mehr in diese Kirche gehen muss, nicht mal in die Nähe. Wenn du versuchst, mich wieder da hinzuschle­ppen, verschwind­e ich aus deinem Leben, und zwar endgültig und für immer.

Ich möchte nicht davon reden, wie ich von Lucy Abschied genommen habe. »76. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany