Rieser Nachrichten

Wo die wilden Tiere wohnen

Wo liegt nur die Bieszczady? Es ist eine der letzten großen Naturlands­chaften Europas. Wanderer finden hier an der Grenze zur Ukraine schier unendliche bewaldete Weiten

- VON LILO SOLCHER

Das Wandern ist der Deutschen Lust? Von wegen! In diesem Sommer scheint ganz Polen auf Wanderscha­ft zu sein, und zwar hier, ganz im Osten, an der ukrainisch­en Grenze. Die Ostbeskide­n (Bieszczady), seit 1973 Nationalpa­rk, mit dem 1346 Meter hohen Tarnica als höchstem Berg gelten als Paradies für Tiere: 200 Braunbären, 500 Wölfe, 300 Luchse, 300 Wisente – Wanderführ­er Leszek Tomaszkiew­icz – grauhaarig und drahtig – rasselt die Zahlen herunter. Nur um dann gleich abzuwiegel­n: Wir bräuchten uns keine Hoffnung machen, einen Braunbären oder gar einen Wolf zu sehen. „Die Tiere halten sich fern.“Auch die Biber, die in den 1960ern über ein Forschungs­projekt in die Bieszczady kamen und sich mittlerwei­le so vermehrt haben, dass sie zur Plage wurden.

Wundern muss sich niemand darüber, dass die Tiere unsichtbar bleiben. Ganze Karawanen von Menschen ziehen durch die Wälder – vom Kleinkind bis zur Oma. Die Nationalpa­rk-Verwaltung kanalisier­t die Wanderströ­me. Und wir sind mittendrin im wohl meistbegan­genen Trampelpfa­d auf den Tarnica. Er führt bergan durch von Sonnenstra­hlen schraffier­te Mischwälde­r und Wiesen, in denen üppig der blaue Enzian blüht.

Vom ersten Buckel aber hat man einen prächtigen Überblick über eine Landschaft, die weitgehend der Natur gehört. Hügel über Hügel bis zur ukrainisch­en Grenze, menschenle­er. Genug Platz für all die Tiere, die wir nicht sehen.

Dass das so ist, hängt mit der Geschichte dieser Region zusammen, deren Grenzen in den Kriegen immer wieder verschoben wurden – und mit der Aktion „Weichsel“, wie Leszek erzählt, während wir über einen Bohlenweg zu einer umlagerten Wanderhütt­e aufsteigen. Bis zu 100 000 Menschen mit ukrainisch­en Wurzeln wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Region vertrieben, über 50 Dörfer wurden ausgesiede­lt.

„Noch 1947 brannten hier Häuser, wurden Menschen getötet“, sagt der 63-jährige Wanderführ­er, der auch in der Tourismuso­rganisatio­n ein Wörtchen mitzureden hat. Die ukrainisch­e Aufstandsa­rmee kämpfte damals für eine freie Ukraine – und nach der Ermordung eines polnischen Generals begann die Aussiedlun­g aller Ukrainer. „Heute existieren ihre Dörfer nur mehr als Namen auf der Landkarte.“Es ist ein dunkles Kapitel in der polnischuk­rainischen Geschichte.

Doch auch in der jüngeren Vergangenh­eit ereignen sich hier im unwegsamen Gelände immer wieder Dramen. Wie das der Tschetsche­nin, die vor zehn Jahren mit ihren vier Kindern (drei Töchter und ein Sohn) über den Nationalpa­rk nach Polen fliehen wollte und von Menschensc­hmugglern einfach auf einem ● Ryanair hat eine neue Flugverbin­dung zwischen Berlin Schönefeld und dem Flughafen Rzes zów Jasionka gestartet. Die Airline fliegt montags, mittwochs und freitags. Rzeszów ist auch ein guter Aus gangspunkt für Reisen in die weitge hend unberührte Bergwelt der Bieszczady: www.rzeszow.pl Von Krakau, das von verschiede­nen Airlines angeflogen wird, u. a. von Lufthansa ab München, ist man in etwa drei Autostunde­n im Herzen der Bieszczady: www.lufthansa.com ● Polen hat noch seine Währung Zloty. Ein Euro entspricht derzeit in etwa 4,25 Zloty. ● Sanok mit 150 Exponaten und einem nachgebau ten galizische­n Dorf: Eintritt 17 Zloty, skansen.sanok.pl ● Eine Fahrt mit der Schmalspur­bahn kostet 20 Zloty. Ausgangsor­t ist Majdan. Berg ausgesetzt wurde. Tagelang irrte die Frau orientieru­ngslos durch das Gelände, die drei Töchter starben. Mutter und Sohn überlebten nur knapp und wurden im Krankenhau­s wieder aufgepäppe­lt. Jahre später kehrte die Tschetsche­nin wieder in ihre Heimat zurück. Leszek schüttelt den Kopf und schaut hinüber zur Ukraine, mit der sich Polen mittlerwei­le arrangiert hat.

Wir sind auf einem der Vorgipfel angekommen, weit schweift der Blick über die Berge, die sich bis zum Horizont stapeln. Der Weg zieht sich, noch drei Vorgipfel liegen vor dem Tarnica. Bis wir ihn erreicht haben, müssen wir viele Treppen steigen und über einige Felsen klettern.

Unter dem Gipfelkreu­z sieht es aus wie in einer Karawanser­ei. Überall lagern die Wanderer, die einen machen Picknick, die anderen Selfies mit Aussicht. Doch am Himmel braut sich etwas zusammen – und wir haben noch einen langen Abstieg vor uns. Fürs obligatori­sche Gipfelbild reicht die Zeit gerade noch.

Drunten im Tal freuen wir uns auf die gigantisch­en BlaubeerPf­annkuchen im von Blumen umwucherte­n Restaurant Chata Wedrowca, das Ewa und Robert Zechowscy auf der grünen Wiese hingestell­t haben. „Wir haben einfach gebaut, was uns gefällt, in der Hoffnung, dass es auch den Gästen gefällt“, erzählt Ewa, die vorher mit ihrem Mann eine Jugendherb­erge in Krakau geführt hat. Wichtig war dem unternehmu­ngslustige­n Ehepaar, dass sein Restaurant von der Straße aus zu sehen ist, damit auch wirklich Gäste kommen. Inzwischen ist das nicht mehr ganz so wichtig. Denn das Chata Wedrowca mit seiner kleinen feinen Speisekart­e ist bekannt, so bekannt, dass man kaum mehr einen Platz bekommt. Im Gault Millau gehört Ewas und Roberts Hexenhäusc­hen, das nur sechs Monate geöffnet ist, zu den besten Restaurant­s in ganz Polen. Im kleinen Laden verkauft Ewa auch regionale Produkte. Spezialbie­re aus kleinen Brauereien, Honig, Blaubeerma­rmelade.

Blaubeeren wachsen in dieser Gegend überall am Wegrand – und Pilze. Hin und wieder verkaufen Frauen Selbstgesa­mmeltes am Straßenran­d. Fast ein kleiner Markt hat sich am Wendepunkt der Waldbahn gebildet, die 1890 zu Zeiten des österreich­ischen Kaisers von italienisc­hen Gastarbeit­ern für den Holztransp­ort gebaut worden war. Damals, als Holz der wichtigste Baustoff für die Häuser war.

Von den schönen alten Holzhäuser­n stehen nur noch wenige. Die meisten wurden von gesichtslo­sen aber komfortabl­en Steinhäuse­rn verdrängt. Die schönsten fanden im Freilichtm­useum von Sanok eine neue Heimat. Aber in der so typischen Landschaft aus Birkenwäld­chen und Wiesen fehlen sie. Wenn die Schmalspur­bahn, die heute statt Holz Touristen befördert, im Schneckent­empo durch die grüne Natur dampft oder holpert, würde man sich – zumindest fürs Foto – ein paar der alten Häuser zurückwüns­chen. Leszek hat da andere Prioritäte­n. Die Menschen wollten es heute eben komfortabe­l, sagt er. Und in den alten Holzhäuser­n gab es weder fließend Wasser noch Elektrohei­zung, die Zimmer waren niedrig, die Fenster klein.

Das Bähnlein hält in Balnica, einem Dorf, das bei der Operation Weichsel ausgesiede­lt worden war. Nur ein Haus überstand die Aktion und wurde später von neuen Bewohnern in Besitz genommen. Die Fahrgäste, die beim Zwischenst­opp aus den Waggons klettern, haben aber vor allem Augen für die kleinen Stände, an denen es verlockend nach Nahrhaftem duftet: Krakauer vom Grill – „Besser als bei uns“, kommentier­t ein Mann mit erkennbar sächsische­m Akzent –, Schmalzbro­t mit Salzgurke, Blaubeeren im Becher, selbst gebackene Kuchen. Ab fünf Zloty ist man dabei.

Auf der Rückfahrt legt sich das Bähnle so richtig ins Zeug, es qualmt, dass man vor lauter Dampfschwa­den kaum noch etwas sieht, unter markerschü­tterndem Tuten rattert die Waldbahn zurück zum Ausgangsor­t Majdan. Scherzbold­e

Die polnisch ukrainisch­e Geschichte kennt auch dunkle Kapitel Viele Deutsche sind Nostalgiet­ouristen auf den Spuren der Eltern

haben am Rand einen Sensenmann aufgestell­t. Doch so etwas kann die gute Laune der zumeist älteren Passagiere nicht trüben. Auch Deutsche sind dabei, sie sind mit dem Bus angereist, der Großteil sind NostalgieT­ouristen auf der Suche nach der Heimat ihrer Eltern oder Großeltern.

Dass Polen auch ein Weinland ist, überrascht selbst diese Touristen. Dabei gab es schon im 10. Jahrhunder­t Weinberge in Polen. Aber das Wissen um den Weinanbau ging während der Kriege und der Planwirtsc­haft verloren. Inzwischen freilich sind junge Winzer dabei, die alte Kultur wiederzube­leben. Etwa 1000 Hektar Weinberge gibt es derzeit im Land. Angepflanz­t werden besonders widerstand­sfähige Sorten, die auch im rauen polnischen Klima gedeihen wie Solaris, Hibernal oder Johanniter für Weißwein und Rondo oder Cabernet Cortis für Rotwein.

Aleksy Wojcik kennt sich aus mit diesen Sorten. Der Wirt des urigen Gasthauses Stare Siolo in Wetlina verdient viel Geld mit Weinverkos­tungen. In seinem Weinkeller, den er voller Stolz zeigt, lagern Weine aus aller Welt – natürlich auch solche aus Polen. Da passt es, dass immer mehr Touristen auch aus Deutschlan­d in diese einst abgelegene Region kommen.

In der Gegend um den SolinaStau­see, den größten Stausee Polens, sieht es aus wie an einem österreich­ischen See: Hotels, Campingplä­tze, Ferienanla­gen, Spielplätz­e, Discos, Imbissbude­n. Wandern kann man hier auch, hügelauf und hügelab, und zwischendu­rch hinuntersc­hauen auf den See, auf dem die Boote schaukeln und die Wolken baden. Nur wilde Tiere gibt es rund um die Touristenh­ochburg Solina schon lange nicht mehr.

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Fotos: Lilo Solcher Mit Treppen möbliert der „Trampelpfa­d“rund um den Tarnica. Viel Dampf macht die vor allem bei Nostalgie Touristen beliebte Waldbahn. Die schönen alten Häuser ste hen vor allem im Freilichtm­useum Sanok.
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