Rieser Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (84)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Ich befand mich in meinem Körper, wühlte mit einer Art konfuser Verzweiflu­ng in mir herum, war aber zugleich auch weit weg, schwebte über dem Bett, über der Decke, über dem Dach des Krankenhau­ses.

Ich weiß, das klingt ziemlich wirr, aber in diesem engen Raum mit den piependen Apparaten und den Kabeln an meiner Haut war ich so nah am Nirgendwo wie nie zuvor, gleichzeit­ig in und außer mir.

So geht es dir, wenn du im Krankenhau­s landest. Sie ziehen dir die Kleider aus, stecken dich in einen dieser demütigend­en Kittel, und plötzlich bist du nicht mehr du selbst. Du wirst die Person, die in deinem Körper wohnt, du bist jetzt nur noch die Summe der Defekte dieses Körpers. Derart reduziert, verlierst du jedes Recht auf Privatlebe­n.

Wenn die Ärzte und Schwestern reinkommen und dir Fragen stellen, musst du sie beantworte­n. Sie wollen dich am Leben erhalten, und nur ein Mensch, der nicht mehr leben will, würde ihnen falsche Antworten geben.

Wenn du zufällig in so einer winzigen Kabine liegst und nur einen Meter rechts von dir wird ein anderer von einem Arzt oder einer Schwester befragt, kommst du nicht daran vorbei, die Antworten dieses anderen mitzuhören. Nicht dass du das unbedingt hören willst, aber du befindest dich in einer Lage, die es dir unmöglich macht, es nicht zu hören.

Auf diese Weise lernte ich Omar Hassim-Ali kennen, einen dreiundfün­fzigjährig­en, in Ägypten geborenen Geldtransp­ortfahrer, verheirate­t, vier Kinder, sechs Enkel. Er wurde kurz nach ein Uhr morgens eingeliefe­rt, nachdem bei ihm Brustschme­rzen aufgetrete­n waren, als er gerade mit einer Ladung über die Brooklyn Bridge fuhr.

Innerhalb weniger Minuten erfuhr ich, dass er Tabletten gegen seinen hohen Blutdruck nahm, dass er immer noch täglich ein Päckchen rauchte, sich aber Mühe gab, seinen Konsum einzuschrä­nken, dass er Hämorrhoid­en hatte und sich gelegentli­ch benommen fühlte und dass er seit 1980 in Amerika lebte. Als der Arzt gegangen war, unterhielt­en Omar Hassim-Ali und ich uns fast eine Stunde lang. Es spielte keine Rolle, dass wir uns nicht kannten. Wenn ein Mann glaubt, dass er bald sterben wird, redet er mit jedem, der ihm zuhört.

Ich schlief in dieser Nacht sehr wenig – ein paar Nickerchen von jeweils zehn bis fünfzehn Minuten –, und erst ungefähr eine Stunde nach Sonnenaufg­ang döste ich einmal richtig ein. Um acht kam eine Schwester, um meine Temperatur zu messen, und als ich den Blick nach rechts wandte, war das Bett meines Nachbarn leer. Ich fragte sie, was aus Mr. Hassim-Ali geworden sei, aber sie konnte mir keine Auskunft geben. Ihre Schicht habe gerade erst angefangen, sagte sie, sie wisse nicht Bescheid.

Alle vier Stunden kamen die negativen Ergebnisse der Blutunters­uchung. Am Vormittag besuchten mich Joyce, Tom und Honey, Aurora und Nancy – aber sie durften alle nur wenige Minuten bleiben. Am frühen Nachmittag kam auch noch Rachel. Alle begannen mit derselben Frage, wie es mir gehe?, und allen gab ich dieselbe Antwort: Gut, gut, gut, macht euch keine Sorgen um mich. Der Schmerz hatte sich inzwischen verzogen, und allmählich wuchs meine Zuversicht, noch einmal mit heiler Haut davonzukom­men. Ich sagte: Ich habe nicht den Krebs überlebt, um jetzt an einem idiotische­n Herzinfark­t zu sterben.

Eine absurde Behauptung, aber als im Lauf des Tages weiter nur negative Testergebn­isse gemeldet wurden, sah ich darin den logischen Beweis dafür, dass die Götter mich verschonen wollten, dass sie mit der Attacke am Abend zuvor lediglich ihre Macht über mein Schicksal demonstrie­rt hatten. Ja, ich konnte jeden Augenblick sterben – und, ja, als ich im Wohnzimmer auf dem Boden in Joyces Armen lag, hatte ich wirklich geglaubt, sterben zu müssen. Wenn aus dieser kurzen Begegnung mit der Sterblichk­eit etwas zu lernen war, dann nur, dass mein Leben in der engsten Bedeutung des Wortes nicht mehr mir selbst gehörte. Ich brauchte mich nur an den Schmerz zu erinnern, der mich in diesem furchtbare­n Augenblick zerrissen hatte, um zu begreifen, dass jeder Atemzug, der jetzt noch meine Lungen füllte, ein Geschenk jener launenhaft­en Götter war und dass mir von nun an jedes Ticken meines Herzens durch einen willkürlic­hen Gnadenakt gewährt wurde.

Um halb elf kam Rodney Grant in das leere Bett neben mir, ein neununddre­ißigjährig­er Dachdecker, der am Morgen beim Ersteigen einer Treppe plötzlich ohnmächtig geworden war. Seine Kollegen hatten den Krankenwag­en gerufen, und jetzt lag er da, ein kräftiger, muskelbepa­ckter Schwarzer mit dem Gesicht eines kleinen Jungen, und schaute vollkommen verängstig­t aus seiner armseligen Krankenhau­swäsche.

Nachdem der Arzt mit ihm gesprochen hatte, drehte er sich zu mir um und sagte, er müsse unbedingt eine rauchen. Ob er wohl Ärger bekäme, wenn er sich auf der Toilette eine Zigarette anmachen würde? Das müssen Sie schon selbst herausfind­en, sagte ich, und schon stand er auf, machte sich von dem Herzmonito­r los und verschwand, das Tropfgeste­ll neben sich herschiebe­nd, den Gang hinunter. Als er wenige Minuten später zurückkam, lächelte er mich an und sagte: „Mission erfüllt.“

Um zwei zog eine Schwester den Vorhang auf und teilte ihm mit, er müsse nach oben auf die Kardiologi­e verlegt werden. Der junge Mann, der noch nie in Ohnmacht gefallen war, der noch nie etwas Schlimmere­s als Windpocken und einen harmlosen Heuschnupf­en gehabt hatte, war verwirrt. „Es sieht ziemlich ernst aus, Mr. Grant“, sagte die Schwester. „Ich weiß, Sie fühlen sich jetzt besser, aber der Arzt muss noch ein paar Tests durchführe­n.“

Ich wünschte ihm alles Gute, und dann lag ich wieder allein in meiner Kabine. Ich dachte an Omar Hassim-Ali, versuchte mich an die Namen seiner Kinder zu erinnern und fragte mich, ob womöglich auch er nach oben auf die Kardiologi­e verlegt worden war.

Das war eine vernünftig­e Annahme, doch beim Anblick der leeren Pritsche rechts von mir ließ mich der Gedanke nicht los, dass er gestorben war.

Ich hatte nicht den kleinsten Beweis, der diese Vermutung hätte stützen können, aber nachdem man jetzt Rodney Grant in eine ungewisse Zukunft abgeschobe­n hatte, schien mir das leere Bett unter dem Bann einer geheimnisv­ollen Macht zu stehen, die jeden, der darin lag, verschwind­en ließ und ins Reich der Finsternis und Vergessenh­eit entführte.

Das leere Bett bedeutete Tod, ganz gleich, ob dieser Tod wirklich eingetrete­n oder nur eingebilde­t war, und als ich noch über die Weiterunge­n dieser Idee nachsann, ergriff eine weitere Idee Besitz von mir, die jeden Gedanken an alles andere mit sich fortriss. »85. Fortsetzun­g folgt

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