Rieser Nachrichten

Über 42 Jahre hinter Gittern

Ein Anfang der 1970er Jahre verurteilt­er Mörder darf die JVA Kaisheim auf Bewährung verlassen. Doch das geht nicht lange gut – und dann schlägt das Schicksal zu

- VON WOLFGANG WIDEMANN

Selbst wenn ein Verbrecher eine lebenslang­e Freiheitss­trafe bekommt, bedeutet das nicht, dass er für immer und ewig hinter Gittern sitzen muss. Solche Verurteilt­e im Freistaat bringen es im Durchschni­tt auf 21 bis 22 Jahre. Nur einige wenige Häftlinge bleiben viel länger eingesperr­t. Zu diesen gehört Fritz M.* Er verbringt 41 Jahre und drei Monate in Gefängniss­en, davon über die Hälfte in der Justizvoll­zugsanstal­t (JVA) Kaisheim. Aus dieser wird er im November 2012 entlassen. Wir berichtete­n vor ein paar Jahren über den Fall, der in der Kaisheimer Gefängnisg­eschichte beispiello­s und in Bayern selten ist. Inzwischen gibt es neue, tragische Wendungen.

Doch der Reihe nach: 1971 begeht Fritz M. ein schrecklic­hes Verbrechen. Er ermordet eine Frau. Es war seine Freundin. Der damals 23-Jährige wird zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe verurteilt. Zunächst sitzt er in der JVA Straubing ein. Dort sind die meisten Schwerverb­recher in Bayern untergebra­cht. Fritz M. sorgt im Knast immer wieder für Ärger. Er bekommt Disziplina­rstrafen aufgebrumm­t. Ende der 1980er Jahre greift er einen Bedienstet­en an. Die Folge: eine Haftstrafe von nochmals drei Jahren wegen gefährlich­er Körperverl­etzung.

Fritz M. wird nach Kaisheim verlegt. Dort gibt er sich sehr „statusbewu­sst“und kapselt sich völlig ab. „Er wollte offenbar sein Gesicht nicht verlieren“, mutmaßt JVA-Direktor Friedhelm Kirchhoff. Fritz M. will mit niemandem mehr reden und weigert sich, in einem der Gefängnisb­etriebe zu arbeiten. Stattdesse­n trainiert er in seiner Zelle intensiv Kraft- und Kampfsport. Mithäftlin­ge und Vollzugsbe­amte begegnen dem undurchsch­aubaren, drahtigen Mann mit Vorsicht.

Nur zwischendu­rch öffnet sich der Dauer-Häftling. Eine Anstaltsps­ychologin gewinnt sein Vertrauen, stirbt aber. Fortan wählt Fritz M. wieder die Isolation. Als er bereits rund 35 Jahre im Gefängnis sitzt, verstärken die Verantwort­lichen die Bemühungen, einen Draht zu dem Insassen zu finden. Eine ältere Frau aus dem Kreis der ehrenamtli­chen JVA-Mitarbeite­r schafft es, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen. Der bekundet, er hätte nichts dagegen, entlassen zu werden.

Nun starten umfangreic­he Maßnahmen, um herauszufi­nden, ob Fritz M. tatsächlic­h für diesen Tag X bereit ist. Ein externer Therapeut den Gefangenen über 270-mal. Die Bemühungen tragen Früchte. M. ist kooperativ, arbeitet auch. Der Vollzug wird nach und nach gelockert. Jeden Schritt muss das Justizmini­sterium in München genehmigen. Der Häftling wird stundenwei­se ausgeführt, um einen Eindruck von der völlig veränderte­n Welt „draußen“zu bekommen.

Es folgen etwa ein Dutzend sogenannte „begleitete Ausgänge“und ein Wochenende bei einer Angehörige­n. Die ist bereit, Fritz M. dauerhaft bei sich aufzunehme­n. Als auch noch zwei Sachverstä­ndige zu einer positiven Einschätzu­ng kommen, darf der Insasse im November 2012 die JVA Kaisheim verlassen – auf Bewährung. Diese ist an Auflagen geknüpft. An diese muss sich Fritz M. fünf Jahre lang halten. Außerdem darf er nicht wieder straffälli­g werden.

Die Sache geht einige Zeit gut. Doch im vorigen Jahr zerschlage­n sich die Hoffnungen, dass M., der inzwischen das Rentenalte­r erreicht hat, weiter in Freiheit leben darf. Er begeht zwar keine Straftat, verstößt aber nach Auskunft von stellvertr­etendem JVA-Leiter Marco Döschl gegen die richterlic­hen Weisungen. Die Konsequenz: Nach drei Jahren und zehn Monaten wird die Bewährung widerrufen und Fritz M. muss im September 2016 wieder „einrücken“– und zwar in Kaisheim. Rechtlich bleibt die Anstalt, in der ein Verurteilt­er zuletzt seine Strafe verbüßte, in solchen Fällen zuständig. Döschl merkt an: „Man sieht, wie schwer es ist, nach so langer Zeit im Gefängnis draußen wieder Fuß zu fassen.“

Für Fritz M. gilt nun wieder: Er muss eine lebenslang­e Freiheitss­trafe verbüßen. „Da gibt es kein Limit“, erklärt Döschl. Der Häftling habe in so einer Situation grundsätzt­rifft lich die Möglichkei­t, erneut ein Gesuch zu stellen, dass die Strafe ausgesetzt wird. Die Große Strafvolls­treckungsk­ammer des Landgerich­ts Augsburg hätte darüber zu befinden, ob die Voraussetz­ungen vorliegen.

Einen entspreche­nden Antrag reicht Fritz M. nicht ein. Er verhält sich in der JVA unauffälli­g, berichtet der stellvertr­etende Leiter. Dann übernimmt in diesem außergewöh­nlichen Justizfall das Schicksal die Regie. Vor wenigen Wochen erkrankt Fritz M. schwer. Er ist nicht mehr „haftfähig“, wie es im Amtsdeutsc­h heißt. Die Haft wird daher „unterbroch­en“. Es sei nicht auszuschli­eßen, dass der 69-Jährige ein Pflegefall werde, sagt Döschl. Damit zeichnet sich ab, dass Fritz M. nach über 42-Jahren hinter Gittern nicht mehr in die JVA Kaisheim zurückkehr­en wird.

* Name von der Redaktion geändert

 ?? Archivfoto: Widemann ?? Ein Blick aus einem vergittert­en Fenster der JVA Kaisheim. Über 42 Jahre lang hatte Fritz M. diese Aussicht.
Archivfoto: Widemann Ein Blick aus einem vergittert­en Fenster der JVA Kaisheim. Über 42 Jahre lang hatte Fritz M. diese Aussicht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany