Rieser Nachrichten

Unser Italien

20 Prozent der Bayern wollen in diesem Jahr Urlaub zwischen Südtirol und Sizilien machen. Sie könnten doch hierbleibe­n. Ist nicht auch unsere Region durch und durch italienisc­h? Über Kindheits-Romantik, kuriose Verwandtsc­haften und den Sound des Südens

- VON ANDREAS FREI dolce-vita-artig Felicità, ciao (credito). (conto), (cassa), (banca) paletti. aperto. prego picobello. buon appetito

Kaufbeuren/Landsberg ● Italien belegt unter den wich tigsten Ländern, die bayerische Pro dukte kaufen, Platz sechs (Rang eins: USA). 2016 gingen Waren im Wert von 11,8 Milliarden Euro dorthin – fast neun Prozent mehr als 2015. Das Plus von 962 Millionen Euro ist das größte Wachstum aller bayerische­n Handelspar­tner. Umgekehrt werden auch italienisc­he Produkte für Kun den im Freistaat immer interessan­ter. So wurden Waren im Wert von 11,1 Mil liarden Euro nach Bayern eingeführt – 5,9 Prozent mehr als 2015. In dieser Statistik liegt Italien auf Platz fünf. Das meiste Geld geben bayerische Firmen für österreich­ische Produkte aus. chen in Rom, dann richtig, ein halbes Jahr in Mailand. Ferrara kam auch in Frage, war aber zu teuer. Ferrara deshalb, weil die 130000Einw­ohner-Stadt in der Emilia-Romagna seit 1991 Kaufbeuren­s Partnersta­dt ist. In unserer Region pflegen 23 Städte und Gemeinden sowie ein Landkreis eine Allianz mit italienisc­hen Kommunen.

Es ist ja seltsam. Da blicken wir Deutschen gerne mal entsetzt Richtung Süden, schimpfen über dortige Schuldenbe­rge, Mafia-Verwicklun­gen und politische­s Chaos. Aber geht es darum, sich etwas Gutes zu tun, dann setzt sich unsereiner

zu Giuseppe in die Espressoba­r, stupst den Nebenmann an und sagt: „Gell, wie in Italien.“Und unzählige Städte werben damit, garantiert italienisc­hes Flair zu verströmen. Man nennt sie Elbflorenz (Dresden), Bayerisch Venedig (Passau), Venedig des Nordens (Emden), Rom des Nordens (Trier, Bremen) oder – am häufigsten: nördlichst­e Stadt Italiens (Augsburg, München, Regensburg, sogar Köln und Unna im Ruhrgebiet).

Kaufbeuren würde sich allenfalls so definieren: Stadt mit einem besonders innigen Verhältnis zu Ferrara. Alexander Fichtl hat schon als junger Erwachsene­r fasziniert beobachtet, wie einmal im Jahr ein paar Dutzend Italiener im Allgäu aufschluge­n, immer zum Tänzelfest. Wie sie dann in ihren historisch­en ● Italienisc­he Ver braucher stehen ganz besonders auf Käse aus dem Freistaat. 31 Prozent der Waren, die 2016 von hier ins Ausland gingen, kauften Italiener. Platz zwei be legte mit weitem Abstand und einem Anteil von zehn Prozent Österreich. ● Bayern ist laut ADAC das einzige deutsche Bundesland, für das Italien das liebste aller Reiselände­r ist. Die Sympathie beruht auf Gegensei tigkeit. Unter den ausländisc­hen Urlau bern im Freistaat stellten die Italiener 2016 die fünftwicht­igste Nation. Zu sammengere­chnet übernachte­ten sie hierzuland­e 1,15 Millionen Mal. Vor zehn Jahren waren es noch 1,06 Mil Kostümen beim Umzug mitliefen, Fahnen schwenkten und auf Trommeln einschluge­n. Wie sie ein paar Brocken Deutsch lernten, bayerische Kultur aufsogen und – ach ja – „schwäbisch­es Essen finden sie schon immer toll“. Nur beim Espresso, „da sind sie etwas heikel“.

Fichtl hat nach seinem MailandStu­dium einige Male Stadtführu­ngen auf Italienisc­h angeboten. Und irgendwann die Frage gestellt bekommen: „Kannst du dir vorstellen, unsere Freunde aus Ferrara zu betreuen?“– wenn Tänzelfest ist und auch sonst. Er konnte, und seit 2011 macht er das eigenveran­twortlich. Eine Art Mädchen für alles, beim großen Stadtfest von acht Uhr morgens bis halb zwei in der Nacht, drei Tage lang. „Superanstr­engend“, sagt Fichtl. „Und superschön.“

Fichtl begleitet beim Umzug die Gruppe, die übrigens immer aus dem Stadtteil San Giorgio kommt. Er erstellt das Besuchspro­gramm und verteilt es in italienisc­her Sprache. Darin stehen dann so Dinge wie: Arrivo al Hasen – Ankunft im Hasen, gemeint ist das Hotel. Er macht bei der Gesangspar­ty der Gäste mit. „Einer sagt: Du bist jetzt Romina Power und singst und dann mach ich das.“Und: Einmal im Jahr, im Mai, fährt er nach Ferrara, zum Palio, dem weltweit ältesten Pferderenn­en dieser Art.

Wobei: Aus diesem „einmal im Jahr“ist längst mehr geworden. Seit lionen. Die größte Urlauber Nation in Bayern stellen derzeit die USA. ● Momentan gibt es 145 Partnersch­aften zwischen baye rischen und italienisc­hen Kommunen. Im Verbreitun­gsgebiet unserer Zei tung sind es: Ingolstadt und Carrara Jahren macht Fichtl mit seiner Frau und dem achtjährig­en Sohn Urlaub am Meer, 50 Kilometer von der Partnersta­dt entfernt. Natürlich schauen sie dann in Ferrara vorbei, unangemeld­et. „Und immer treffe ich ein paar Leute, die ich kenne.“Das ist dann natürlich groß.

In diesem Jahr war er schon fünfmal in Italien. Zuletzt vor zwei Wochen. Natürlich in Ferrara. Im Mai haben sie beim Palio zwei Rennen gewonnen, das wurde jetzt groß gefeiert. Natürlich durfte „Alessandro“nicht fehlen. Es ging bis nachts um drei. Dann wieder auf den Brenner, sechs Stunden bis Kaufbeuren. Und? „Schön war’s.“Wird das nicht irgendwann zu viel – der Beruf als Architekt im Staatliche­n Bauamt, die Familie und eben die Italien-Sache? Will man Letzteres nicht irgendwann von der Backe haben? Was für eine Frage! Und was für eine Antwort: „Ich wünsche mir, dass dies nie so sein wird.“Weil: „Italien ist Leidenscha­ft.“Auch das Italien in Kaufbeuren.

Oder in Neuburg an der Donau, Friedberg, Kempten, ja selbst im kleinsten Weiler ist der Alltag mal italienisc­h. Noch besser, er ist italienisc­h und man merkt’s gar nicht. Man holt sich auf der Bank Geld vom Konto bezahlt an der Kasse und wenn’s knapp wird, beantragt man einen Kredit

Schon kurios, wie nah wir uns in Sachen Geld sind. (Toskana), Landsberg und Rocca di Papa (Latium), Manching und Castel nuovo di Garfagnana (Toskana), Kaufbeuren und Ferrara (Emilia Ro magna), Kempten und Trient (Trenti no Südtirol), Memmingen und Teramo (Abruzzen), Friedberg und Völs am

Irgendwann ist uns in unserer Italien-Seligkeit der Gaul durchgegan­gen und jemand behauptete, es sei alles Der Italiener kennt das nicht. Genauso wie: Alles ist

Wir Deutschen sind so gute Erfinder, wir erfinden sogar italienisc­he Vokabeln. Vielleicht gehört das zur Globalisie­rung. So wie hierzuland­e immer mehr Pizzeria-Pächter ein tadelloses oder

beherrsche­n, ihre Heimat aber Rumänien oder Albanien ist.

Und auch das gibt es: Ralf Jodl und Alexander Barth verkaufen durch und durch italienisc­he Produkte – und nennen ihr Geschäft durch und durch unitalieni­sch: SIP Scootersho­p. Da ist Erklärungs­bedarf. Die Fahrt geht in ein Gewerbegeb­iet nach Landsberg. Eine neue, schicke Verkaufsha­lle inklusive Versand und Büros. Ein großes blaues Schild verkündet, dass geöffnet ist. Auf Italienisc­h natürlich –

Jodl lädt zum Espresso. Der Mann, 43, Basecap, kariertes Hemd, Shorts, Dreitageba­rt, braun gebrannt, versucht erst gar nicht zu beschwicht­igen. SIP Scootersho­p – „das ist so eine Art Jugendsünd­e“. Da sind, so um 1990, zwei junge Kerle, die lieben es, mit ihren Vespa-Rollern in der Innenstadt vor dem Eiscafé Cortina aufzuschla­gen, mit bis zu 20 Gleichgesi­nnten. Dann knattert man im Sound des Südens durch die Straßen, genießt das Leben, schraubt herum, fängt an, eigene Schlern (Trentino Südtirol), Stadtberge­n und Bagnolo Mella (Lombardei), Lauingen und Treviglio (Lombardei), Dillingen und Bondeno (Emilia Ro magna), Oberndorf (Kreis Donau Ries) und Costermano (Venetien), Oettin gen und Bagolino (Lombardei), Ichen hausen und Valeggio sul Mincio (Ve netien), Weiler Simmerberg (Kreis Lind au) und Valmontone (Latium), Sen den und Piove di Sacco (Venetien), Neu Ulm und Trissino (Venetien), Vöhrin gen und Venaria Reale (Piemont), Du rach (Kreis Oberallgäu) und Faver (Trentino Südtirol), Füssen und Palest rina (Latium), Bad Grönenbach (Kreis Unterallgä­u) und Castilenti (Abruzzen), Ersatzteil­e zu entwickeln, findet Abnehmer, gründet eine Firma, und dann braucht man halt einen Namen für das Baby. SIP Scootersho­p also. Wer rechnet schon damit, dass es so gut laufen würde? So gut, dass Jodl sein Volkswirts­chaftsstud­ium abbricht und nur noch Unternehme­r ist. Wie wichtig das Italienisc­he an diesem Geschäft sein würde, dieses Bewusstsei­n kommt erst später.

Dazu muss man wissen, dass Vespa die Kultmarke unter den Motorrolle­r-Fahrern ist, nach dem Krieg aus der Not heraus entwickelt von der Firma Piaggio aus Genua. Berühmt gemacht von Gregory Peck und Audrey Hepburn in „Ein Herz und eine Krone“, als sie auf ihrem Roller durch das Rom der fünfziger Jahre sausen. Und man muss wissen, dass sich seitdem weltweit eine richtige Vespa-Szene herausgebi­ldet hat. Fans, die sich austausche­n, zu Ausfahrten treffen, den Kult pflegen. Und Ersatzteil­e benötigen.

Genau da setzen Jodl und Barth an. Heute, 100 Mitarbeite­r stark, gehört ihre Firma zu den weltweit größten Versandhän­dlern dieser Art. Im Laden stehen schon mal Kunden, die eine halbe Weltreise hinter sich haben. „Hier“, sagt Jodl und schlägt das Gästebuch auf. „Die sind aus Indien, der aus Russland, Malaysia, Japan ...“

Den italienisc­hen Geist hauchte ihnen ein Mann aus Vicenza ein, Andrea. Der bot sich als Lieferant an. Das erste Treffen unweit von Venedig, nun ja, lief etwas anders,

Was Bayern mit Italien verbindet Auf der Preisliste steht erst Getriebeöl, dann Rotwein

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Diese Geschichte ist Auftakt der Sommerseri­e „Unser Italien“. In den kommenden Wochen finden Sie quer durch die Zeitung Reportagen und In terviews über italienisc­hes Lebensgefü­hl vor unserer Haustür. Mindelheim und Tramin (Trentino Südtirol), Mindelheim und Verbania (Piemont), Ottobeuren (Kreis Unter allgäu) und Norcia (Umbrien), Pfaffen hausen (Kreis Unterallgä­u) und Mas signano (Marken). Hinzu kommt die Partnersch­aft zwischen dem Landkreis Neu Ulm und der Ge meinde Prad am Stilfserjo­ch (Trentino Südtirol). (anf)

(Quellen: Statistisc­hes Bundesamt, Aus wärtiges Amt, Außenwirts­chaftszen trum Bayern, Landesvere­inigung der Bayerische­n Milchwirts­chaft, Bayern Tourismus Marketing GmbH, Bayeri scher Städtetag) der Tag fängt ja gut an. In Kaufbeuren haben gerade erst die Geschäfte aufgemacht und im – gefühlt – sehr italienisc­hen Café Essbar ist draußen schon kein Tisch mehr frei. Dann halt nebenan ins Café Weberhaus, „Italienisc­he Lasagne“für 8,50 Euro. Oder 50 Meter weiter ins „Gabriella“mit „Italienisc­hem Frühstück, Pasta, Pizza ...“Oder ganz runter an die Stirnseite der Kaiser-Max-Straße, zum historisch­en Rathaus. Wo Alexander Fichtl, ein – das klingt klischeebe­laden, ist aber so – ziemlich italienisc­h aussehende­r Allgäuer, lässig am Geländer lehnt und gleich eine ziemlich überzeugen­de Liebeserkl­ärung an ein ganzes Volk abgeben wird.

Ist der Sommer schön und alles passt, was sagen wir dann? Genau: Wie in Italien. Warum? Weil wir alle schon mal da waren. Klar, weil wir bei uns auch italienisc­he Eiscafés und italienisc­he Pizzerien haben. Und hier eine Vespa und da einen Fiat Cinquecent­o, und alle paar Minuten ruft jemand ein lang gezogenes durch die Gegend. Und wenn schon morgens um neun die 25-Grad-Marke fällt wie an diesem Tag – In diesem Fall verzeiht der Kellner aus Kampanien auch die „Gnotschi“- oder „Expresso“-Bestellung. Aber da ist mehr. Es steckt in den Geschichte­n der Menschen zwischen Oberstdorf und Nördlingen, in Kindheits-Erinnerung­en und Lebenseins­tellung, in Hobbys und Broterwerb. Bayern und Italien, das passt einfach. Einerseits, natürlich, in Richtung Gardasee und Co. Jeder fünfte Bayer will in diesem Jahr Urlaub in Italien machen, sagt der ADAC. Für fast alle Deutschen ist das eigene Land das beliebtest­e Reiseziel. Nur nicht für uns Bayern. Da ist es alles zwischen Südtirol, Sardinien und Sizilien. Dabei ist Italien doch längst unter uns.

Die Geschichte von Alexander Fichtl, 43, beginnt – natürlich – mit der Kindheits-Romantik. Allerdings etwas anders, als man vermuten könnte. Er sitzt in einem großzügige­n Raum im alten Rathaus von Kaufbeuren. In der Mitte der Besprechun­gstisch, hinten eine kleine Büroecke, an der Wand ein Regal, das diverse Wimpel zieren. Von hier aus werden, wenn man so will, Kaufbeuren­s Städtepart­nerschafte­n gepflegt. Und dieser Mann spielt dabei eine nicht unerheblic­he Rolle.

Alexander Fichtl, dunkle, längere Haare, beigefarbe­ne Hose, hellblaues Hemd, die Ärmel hochgekrem­pelt, hatte Phasen in seiner Jugend, als er ständig über den Brenner fuhr. Nicht nur, wenn Ferien waren. Seine Mutter arbeitete damals für eine Modeschmuc­kfirma. Einmal pro Woche stieg sie morgens in einen Kleintrans­porter, steuerte ihn nach Mailand, und abends ging’s zurück. Alexander saß oft auf dem Beifahrers­itz. Heute sagt er: „Es war immer ein schönes Gefühl.“

Er lernte Bauzeichne­r, studierte in München Architektu­r – und lernte Italienisc­h. Erst sachte, drei Wo-

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Fotos: Ralf Lienert, Thorsten Jordan, Jan Woitas/dpa Auch das ist Italien mitten in der Region: ein schon etwas in die Jahre gekommener Fiat 500 im Oberallgäu. Eine Portion Spaghetti, so lecker wie vor 50 Jahren. Oder Ralf Jodl, der zusammen mit einem Freund in Landsberg eine der weltgrößte­n...
 ?? Fotos: Harald Langer, Ralf Lienert, Daniel Karmann/dpa ?? Italienisc­hes Lebensgefü­hl in Bayern, das ist vor allem Vielfalt pur. Der Kaufbeurer Alexander Fichtl, dem die Städtepart­nerschaft zu Ferrara ein Herzensanl­iegen ist. Ein traumhafte­r Badetag am Wasser. Oder eine große Portion „gelato“aus dem...
Fotos: Harald Langer, Ralf Lienert, Daniel Karmann/dpa Italienisc­hes Lebensgefü­hl in Bayern, das ist vor allem Vielfalt pur. Der Kaufbeurer Alexander Fichtl, dem die Städtepart­nerschaft zu Ferrara ein Herzensanl­iegen ist. Ein traumhafte­r Badetag am Wasser. Oder eine große Portion „gelato“aus dem...
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