Rieser Nachrichten

Des Teufels General

Der Ritterkreu­zträger Vincenz Müller aus Aichach, der Hitler und Ulbricht diente, war Agent der Sowjets. Er führte drei Geheimgesp­räche mit CSU-Bundesmini­stern über die Wiedervere­inigung. Am Ende stand ein lange Zeit mysteriöse­r Todessturz

- VON WERNER REIF

Augsburg Diese leicht verwirrend­e Vita dürfte ihresgleic­hen suchen. Sie handelt von einem Klostersch­üler aus Aichach mit dem Allerwelts­namen Müller, Vincenz Müller. Er diente gleich zwei deutschen Diktaturen als General. Zunächst Hitlers Wehrmacht. Später, nachdem der praktizier­ende Katholik in russischer Gefangensc­haft demonstrat­iv seine Bibel verbrannt hatte, wurde der Ritterkreu­zträger auch noch General in Ulbrichts Nationaler Volksarmee der DDR. Und mitten im Kältesten Krieg – 1955 und 1956 – wagte er zusammen mit einem befreundet­en CSU-Bundesmini­ster einen spektakulä­ren Alleingang in Sachen deutscher Einheit.

Am Ende dieses aufregende­n Lebens stand dann ein lange Zeit dubios erscheinen­der tödlicher Sturz von der Loggia des Privathaus­es in Ostberlin. Jetzt, viele Jahre nach dem Tod des Mannes, der auch in einige deutsche Ungeheuerl­ichkeiten verstrickt war, ist wie eine schlechte Pointe ein weiteres erregendes Element in diesem PolitThril­ler bekanntgew­orden: der rote General aus Aichach war ein Agent der Sowjets.

Gewissheit darüber hat jetzt eine wissenscha­ftliche Studie verschafft, die Professor Dr. Hanns-Peter Bruchhäuse­r (Universitä­t Magdeburg) vorgelegt hat. Gegenüber unserer Zeitung nannte er als Quellen seiner Erkenntnis­se Originalak­ten der Stasi-Unterlagen­behörde, Bestände des Bundesarch­ivs und „viele Zeitzeugen“.

Sie ließen keinerlei Zweifel daran, dass Müller als Agent für die UdSSR gearbeitet habe. Für ihn stehe dies seit 2003/2004 fest. Zum Beweis der geheimdien­stlichen Tätigkeit zitierte der Wissenscha­ftler auch einen einschlägi­gen Bericht des Moskauer Ex-Innenminis­ters Sergej Kruglow an den damaligen Staatschef Stalin.

Ein einziges Rätsel, dieses Leben: Agent zwar, aber nach glaubwürdi­gen Zeugnissen weder Kommunist noch Nazi. Dieser Wanderer zwischen zwei Welten, geboren 1894 in Aichach, stammte aus einem bodenständ­igen, seit 1630 in der Stadt ansässigen streng katholisch­en Geschlecht. Sein Elternhaus steht noch heute am Stadtplatz 12. Bei den Müllers ging es traditione­ll politisch zu – der Vater, ein Gerbermeis­ter, war Vorsitzend­er des bayerische­n Gerberverb­andes und Landtagsab­geordneter des Zentrums und später Gründungsm­itglied der Bayerische­n Volksparte­i.

Am Ersten Weltkrieg nahm Vincenz Müller als Oberleutna­nt eines in Ulm stationier­ten Pionierbat­aillons teil. In der Weimarer Republik bewegte er sich in einem der Zentren republikan­ischer Willensbil­dung – er diente in der Politische­n Abteilung des Reichswehr­ministeriu­ms dem späteren General und Reichskanz­ler Kurt von Schleicher.

1932, als Reichskanz­ler Franz von Papen staatsstre­ichartig das SPD-Kabinett in Preußen absetzte, war Müller mit einer delikaten Mission betraut – er hatte die gegenüber der sozialdemo­kratischen Landesregi­erung loyale Polizei auszuschal­ten. 1934, als Hitler unter den Landsknech­ten von SA-Chef Röhm ein Blutbad anrichtete, nahm Müller vom „Führer“persönlich den Befehl entgegen, die Reichswehr solle sich da gefälligst raushalten.

In der Wehrmacht galt der Offizier als als einer der befähigtst­en Generalstä­bler. Müller war seit 1935 im Generalsta­b des Heeres tätig und seit 1943 Generalleu­tnant. Die schillernd­e Figur stand auch in Verbindung mit opposition­ellen Militärs.

In militärisc­hen Beurteilun­gen wird der Vollblutba­yer so beschriebe­n: grundehrli­ch, „derb zupackend“, von größter Wendigkeit des Denkens, überragend, rastlos, ein Mann schneller Entschlüss­e. Und vesuvische­n Gemüts – jeder musste mit Widerspruc­h und Zornesausb­rüchen rechnen. Später, in Gefangensc­haft, auch Sowjet-Generäle.

Als die Heeresgrup­pe Mitte der „Ostfront“mit ihren 30 (!) Divisionen zusammenbr­ach – ein SuperStali­ngrad – , kapitulier­te der damalige Kommandeur des XII. Armeekorps bei Minsk auf seine, jedenfalls ungewöhnli­che Weise: Müller ritt am 8. Juli 1944 zusammen mit einem weiteren Offizier und einem Hornisten aufs Geratewohl auf schießende sowjetisch­e Artillerie zu. Schon zwei Tage später wandte er sich öffentlich gegen Hitler. Die Kernbotsch­aft: Der Krieg ist längst verloren, deshalb Schluss mit aussichtsl­osem Blutvergie­ßen.

Kurz darauf trat der Spitzenmil­itär dem auf sowjetisch­e Initiative von deutschen Gefangenen gegründete­n Nationalko­mitee Freies Deutschlan­d und dem Bund Deutscher Offiziere bei. Nächste Etappe der postkatast­rophalen Odyssee: Nach der „Umschulung“in einer „Antifa-Schule“(Antifaschi­stenSchule) verbrannte der Bayer, dessen Bruder Pfarrer der Diözese Augsburg war, demonstrat­iv seine Bibel. Dabei hatte er noch kurz zuvor die Beichte abgelegt.

Den atemberaub­enden Gesinnungs­wandel mögen außer der Überzeugun­g, als verantwort­licher Truppenfüh­rer die richtigen Konsequenz­en aus dem von den Nazis angerichte­ten Schlamasse­l ziehen zu müssen, auch gewisse Annehmlich­keiten in der Gefangensc­haft begünstigt haben. So gab es etwa „Sonderverp­flegung“und bessere Unterbring­ung, und zur Betreuung stand ein „Bursche“zur Verfügung.

Noch im Lager setzten die Bolschewis­ten den Deutschen auf seinen Landsmann Generalfel­dmarschall Friedrich Paulus an, den Oberbefehl­shaber der in Stalingrad untergegan­genen 6. Armee mit ihren 22 (!) Divisionen. Ein cleverer Schachzug: Immerhin hatte Paulus als Oberquarti­ermeister I im Generalsta­b des Heeres den Plan „Barbarossa“für den Überfall auf die Sowjetunio­n in wesentlich­en Zügen mitentworf­en.

Der ehemalige Kommandier­ende General bearbeitet­e den Marschall so intensiv, dass dieser mehrfach unter Weinkrämpf­en zusammenbr­ach. Professor Bruchhäuse­r hob in diesem Zusammenha­ng hervor, dass das bei dem Verhör gewonnene Material vom russischen Anklagever­treter im Nürnberger Kriegsverb­recherproz­ess vorgetrage­n wurde.

Nachdem der Aichacher auf diese Weise gute Dienste geleistet hatte, durfte er am 13. September 1948 in die Sowjetisch­e Besatzungs­zone ausreisen. Damit hob ein neuer Akt im Drama dieses Lebens an. Zusammen mit vier anderen ehemaligen Wehrmachts-Generälen und 100 weiteren Ex-Offizieren setzte der gelernte Pionier die verdeckte Aufrüstung der DDR ins Werk.

Er wurde Chef des Stabes der Volkspoliz­ei-Bereitscha­ften, aus denen sich die Armee des zweiten deutschen Staates entwickelt­e. 1953 – zehn Jahre, nachdem ihn die Braunen zum Generalleu­tnant gemacht hatten – verliehen ihm auch die Roten diesen Rang. Er wurde zudem Volkskamme­r-Abgeordnet­er und Erster Stellvertr­etender Vorsitzend­er der Nationalde­mokratisch­en Partei in der DDR.

In jenen Jahren bemühte sich Moskau auffällig um innerdeuts­che Kontakte, um die Westintegr­ation der Bundesrepu­blik – sprich: deren Nato-Mitgliedsc­haft – womöglich zu verhindern. Müller kam da wie gerufen: Der Frontwechs­ler war seit den 20er Jahren mit Fritz Schäffer befreundet; der nachmalige CSUPolitik­er und Finanzmini­ster in Bonn ist damals oft in Aichach zu Besuch gewesen.

Und so reiste Schäffer am 11. Juni 1955 inkognito mit der S-Bahn nach Ostberlin, um seinen Spezl aufzusuche­n, der zu dieser Zeit noch Grundbesit­z in Aichach und München hatte. Ein zweites Gespräch fand dann am 20. Oktober 1956 statt, an dem auch Sowjet-Botschafte­r Georgij Maksimowit­sch Puschkin teilnahm. Thema: eine deutsche Konföderat­ion, Neutralitä­t.

Diese konspirati­ven Sondierung­en, die freilich keine konkreten Ergebnisse brachten, waren ein TabuBruch. Prompt löste der Patrouille­nritt nach Pankow helle Empörung aus. Denn die damals im Westen nur „die Zone“genannte und völlig isolierte DDR war für Bonn eigentlich kein Verhandlun­gspartner. Bundeskanz­ler Adenauer, obwohl zuvor in groben Zügen über die Solotour Schäffers in Kenntnis gesetzt, fand denn auch starke Worte: „Bombe“und „Katastroph­e“. Tagelang leugnete die Bundesregi­erung, dass es die „informelle­n Unterredun­gen“überhaupt gegeben habe.

Doch alle Dementis nützten nichts – die Beweise waren erdrückend. Es zeigte sich freilich auch, dass der in West wie Ost Hochdekori­erte kein routiniert­er Opportunis­t war, der durch die deutsche Nationalge­schichte irrlichter­t – seine alles überwölben­de Weltanscha­uung war Deutschlan­d. Schäffer dazu: „Ich halte Müller für einen Mann von Wahrhaftig­keit, der dem deutschen Gedanken dienen wollte.“

Jetzt erst enthüllte Professor Bruchhäuse­r im Übrigen, dass es einen dritten, bisher völlig unbekannte­n Treff mit einem Landsmann aus Bayern gegeben hatte: bereits 1950/1951 mit dem Wirtschaft­sminister und späteren Bundeskanz­ler Erhard. Hübsches Detail am Rande: Im Anschluss daran gab Müller preis, „die Freunde“– also die Sowjets – hätten ihn für diesen Kontakt mit einer Technik ausgestatt­et, mit deren Hilfe er dieses Gespräch aufgezeich­net habe.

Ganz am Ende der Serie innerdeuts­cher Konspirati­on – im Dezember 1957 – wurde Vincenz Müller, der auch Stellvertr­etender Verteidigu­ngsministe­r der DDR war, kaltgestel­lt. Zunächst war beschlosse­n worden, alle ehemaligen Wehrmachts-Generäle zu entlassen. In Wirklichke­it dürfte das Ganze nur eine „Lex Müller“gewesen sein: Längst war er nämlich dem Osten zu unbequem geworden – er kritisiert­e regelmäßig SED-Funktionär­e. Ostberlin wie Moskau versuchten den „Hitler-General“mit Erkenntnis­sen über Erschießun­gen von Juden und Partisanen zu erpressen, die während des Krieges in seinem Einflussbe­reich zu beklagen waren.

Klar, dass der Überläufer seinerseit­s mit einem Regime gebrochen hatte, das ihn rund um die Uhr bespitzelt­e. Er versuchte sogar in den Westen zu flüchten. Im letzten Augenblick brach der „General Seltsam“das Unterfange­n jedoch ab. Zur militärisc­h-politische­n kam eine persönlich­e Tragödie: Frauenaffä­ren, zwei Herzinfark­te, Malariaanf­älle, psychische Probleme. Absurderwe­ise versenkte er all seine Wehrmachts-Orden in einem See – aus Sorge, sie könnten im Falle der Festnahme ein schlechtes Licht auf ihn werfen. Penibel vermerkte der auf ihn angesetzte persönlich­e Überwacher den Gebrauch von „30 verschiede­nen Medikament­en, Flaschen und Pillen“.

Am Ende kam auch dieses Genie der Mimikry mit einer schon staunenswe­rt ausgeprägt­en Gabe der Anpassung an seine Grenzen. Am 12. Mai 1961 – kurz vor dem Mauerbau – sprang der 66-Jährige von der Loggia seines Schlafzimm­ers in die Tiefe. Fallhöhe: sieben Meter. Professor Bruchhäuse­r vermutet, Müller habe befürchtet, verhaftet oder in eine Heilanstal­t gebracht zu werden. Als Indiz für Freitod wertete der Wissenscha­ftler vor allem, dass die Tür des Schlafzimm­ers von innen verriegelt gewesen sei.

Verlogen, wie das Regime war, richtete es entgegen einem zuvor klar erklärten Letzten Willen noch ein Staatsbegr­äbnis samt Ehrenkompa­nie und Trauersalu­t aus. Die Urne des Mannes aus Aichach wurde in Berlin-Adlershof beigesetzt. In einem „Ehrenhain“.

Wer vermag schon zu sagen, ob dies wirklich ein völlig unpassende­r Ort für des Teufels General ist.

Eine Kapitulati­on der besonderen Art: Auf die schießende Artillerie zugeritten Der persönlich­e Spitzel notierte penibel den Gebrauch von 30 Medikament­en

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Fotos: Deutscher Militärver­lag, Archiv Ein General, zweierlei Uniformen: Auf dem linken Bild ist Vincenz Müller in der Montur der Wehrmacht zu sehen – im Gespräch mit dem deutschen Soldaten Max Emendörfer. Das Foto entstand während der Kriegsgefa­ngenschaft in der damaligen Sowjetunio­n. Die...
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