Rieser Nachrichten

Schulen erwarten den Notstand

Für Bayerns Grund- und Mittelschu­len gibt es nicht genug Lehrer. Experten vermuten, dass ab Herbst so viel Unterricht ausfällt wie seit Jahren nicht

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Seit Jahren schon passen beim Lehrerbeda­rf in Bayern Angebot und Nachfrage nicht zusammen.

Der Lehrermark­t ist übersättig­t mit Gymnasial- und Realschull­ehrern. Im Jahr 2016 lag die Einstellun­gsquote an den Realschule­n bei lediglich elf Prozent. Außerdem schlossen 1860 Gymnasiall­ehrer ihre Ausbildung ab. Gebraucht wurden nur 370. An Grund-, Mittel- und Berufsschu­len hingegen fehlen laut der offizielle­n Lehrerbeda­rfsprognos­e des bayerische­n Kultusmini­steriums auch in den nächsten Jahren mehrere hundert Bewerber. Der Ausbau von Ganztags- und Inklusions­angeboten, geburtenst­arke Jahrgänge und die Ankunft zehntausen­der Flüchtling­skinder ließ die Zahl der benötigten Fachkräfte zuletzt in die Höhe schnellen. Doch die, die es gibt, sind alle schon fest verplant.

Martin Güll (SPD), Vorsitzend­er des Bildungsau­sschusses im Landtag, warnte gestern: Die Personalde­cke an Grund-, Mittel- und Berufsschu­len sei „so dünn, sodass wir schon im Spätherbst Unterricht­sausfälle in noch nie da gewesenen Dimensione­n haben werden“. Schon vergangene­s Schuljahr hatten an den betroffene­n Schularten um Hilfe gerufen. Schulleite­r berichtete­n unserer Zeitung von Klassen, denen tageweise frei gegeben wurde, von Lehrern, die zwischen zwei Klassenzim­mern hin und her rannten. Der Differenzi­erungsunte­rricht für schwächere Schüler wurde meist als Erstes gestrichen.

In anderen Bundesländ­ern ist es ähnlich. Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzend­er des Deutschen Lehrerverb­ands und Ex-Gymnasiall­eiter im niederbaye­rischen Deggendorf, sieht vor allem im Grundschul­bereich einen Mangel, der „so groß ist wie seit 20, 30 Jahren nicht mehr“– und zwar bundesweit. In anderen Ländern sei die Situation noch viel schlimmer als in Bayern. „In Berlin etwa sind 41 Prozent der Lehrer Quereinste­iger ohne pädagogisc­he Ausbildung. Wenn ich das höre, bekomme ich das kalte Grauen.“In Sachsen sind die Zahlen ähnlich. Bayern bescheinig­t Meidinger, dass der Schülerans­tieg bis zuletzt unterschät­zt worden sei und das Ministeriu­m zu spät Notfallmaß­nahmen ergriffen habe, als die Zahl der Schüler explodiert­e. Dennoch werde im Freistaat verglichen mit anderen Bundesländ­ern „mehr Wert auf Qualität gelegt“. Gymnasiall­ehrer ohne Job haben in Bayern die Möglichkei­t, sich in einer zweijährig­en Sondermaßn­ahme zu Fachkräfte­n für Schularten ausbilden zu lassen, an denen Pädagogen fehlen. Dass man nach dem eigentlich­en Referendar­iat noch einmal zwei Jahre eine praktische Ausbildung ohne Verbeamtun­g machen soll, sehen viele Junglehrer als Beweis für mangelnde Wertschätz­ung. Entspreche­nd lang zog sich die Suche nach interessie­rten Bewerbern hin.

Vor dem Beginn des neuen Schuljahre­s gibt es reihenweis­e Ideen, um den Lehrermang­el zu beseitigen. Meidinger zum Beispiel fordert ein bundesweit­es Lehrerport­al, in dem die Länder ihre Stellenges­ucheeintra­gen und Bewerber sich und ihre Qualifikat­ionen darstellen können. Simone Fleischman­n, Vorsitzend­e des bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands (BLLV), hofft auf mehr Springer, die in Notsituati­onen an den Schulen aushelfen. Wenn Bayern bei der Digitalisi­erung in den Schulen Vollgas gebe, sagt die Verbandsch­efin, dann müssen LehLehrer rer in Fortbildun­gen gehen – und fehlen im Unterricht. Hinzu kommen Lücken durch Kräfte, die während des Schuljahre­s in Pension gehen, Krankheits­wellen und Schwangers­chaften. „Bayern sollte eine Überversor­gung vorhalten“, forderte Fleischman­n deshalb. Dafür müsse man die sogenannte mobile Reserve im kommenden Schuljahr deutlich aufstocken. Die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) setzt sich für ein Lehramtsst­udium ein, das sich nicht nach Schularten, sondern nach dem Alter der Schüler richtet. Lehrer wären nach Ansicht der GEW dann flexibler an den Schulen einsetzbar, an denen gerade ein Mangel herrscht.

Aus dem Kultusmini­sterium kam gestern die Nachricht, dass die Unterricht­sversorgun­g ab dem ersten Schultag sichergest­ellt sei. 4300 neue Lehrer seien eingestell­t worden – man muss aber wissen, dass die Mehrzahl Pensionäre ersetzt. An Grund-, Mittel- und Berufsschu­len wurden alle Bewerber bis zur Examensnot­e 3,5 genommen. Vor ein paar Jahren hätten angehende Lehrer gerade an Grundschul­en von solchen Chancen nur träumen können. Denn damals gab es noch zu viele von ihnen.

Kultusmini­sterium kündigt 4300 neue Kräfte an

 ?? Foto: Caroline Seidel, dpa ?? Seit Jahren klagen Lehrer in Bayern darüber, dass die Personalsi­tuation auf Kante genäht ist. Fällt jemand aus, wird mal der Förderunte­rricht gestrichen, mal unterricht­et ein Lehrer zwei Klassen parallel, mal müssen Stunden ganz ausfallen.
Foto: Caroline Seidel, dpa Seit Jahren klagen Lehrer in Bayern darüber, dass die Personalsi­tuation auf Kante genäht ist. Fällt jemand aus, wird mal der Förderunte­rricht gestrichen, mal unterricht­et ein Lehrer zwei Klassen parallel, mal müssen Stunden ganz ausfallen.

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