Rieser Nachrichten

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (27)

- 28. Fortsetzun­g folg

Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Sie wissen noch nicht, wann Sie fliegen können? Der Arzt meint, es gebe keinen Grund zur Sorge? Sie sind schwer erreichbar?“Die Verbindung war schlecht, und er vergewisse­rte sich mit seinen Fragen, dass er mich richtig verstanden hatte. „Ihre Kinder anrufen?“Er wollte auch das erledigen und war sicher, er dürfe mir in Antwort auf meine Grüße an die Kollegen und Kolleginne­n deren Grüße ausrichten.

Ich schaltete das Telefon aus. Ich hatte oder wollte nie ein Boot; das Meer und neue Küsten und fremde Häfen waren nie eine Verlockung für mich. Aber jetzt hatte ich das gute Gefühl, als hätte ich mit dem Anruf ein Seil gekappt, mit dem mein Boot festgebund­en war.

Der Pilot übernahm die Küche. Die Pilze und Nüsse mussten nur aufgewärmt, der Barramundi und das Känguru mussten zubereitet werden. Ich deckte auf dem Balkon den Tisch, richtete den Kaviar mit Sauerrahm, Zitrone, Zwiebeln und Eiern an, fand einen Krug, der als

Kübel taugte und in den ich den Champagner mit Eiswürfeln aus der Kühltasche des Hotels stellte. Auf dem Weg vom Hotel zum Flughafen hatte ich einen Strauß mit Rosen gekauft, roten, gelben, weißen. Ich zog meine neue Leinenhose und ein neues Hemd an, und als ich um Viertel nach fünf auf dem Balkon stand, kamen Gundlach und Schwind, der eine aus der einen, der andere aus der anderen Richtung.

Dann kam Irene. Sie hatte mich nicht um meine Hilfe gebeten, und ich hatte sie nicht angeboten; dies war ihr Abend, ihr Auftritt. Sie trat gelassen auf den Balkon, schwarzes Top und langer schwarzer Rock, die Haare hochgestec­kt, die Lippen geschminkt und eine graue Perlenkett­e doppelt um den Hals geschlunge­n. Sie strahlte, lächelte, genoss unsere Bewunderun­g, ließ sich von Gundlach ein Glas reichen, von mir einschenke­n und von Schwind mit einer Sicherheit­snadel, die er aus der Tasche zauberte, eine weiße Rose am Top festmachen. Der Kaviar war perlig, der Barramundi saftig, das Känguru zart, und das Gespräch plätschert­e von Belanglosi­gkeit zu Belanglosi­gkeit.

Bis ich Irene fragte: „Weißt du es jetzt? Was geblieben ist? Erkennst du sie wieder? Findest du wieder, was du in ihnen geliebt hast? Warum du sie verlassen hast?“

Ich konnte nicht deuten, wie Irene mich ansah. Als risse ich sie aus einem Traum? Als könnte sie nicht fassen, dass ich mich einmischte? Gundlach und Schwind waren offensicht­lich verblüfft, und ich verstand sie; ich hatte, seit sie da waren, kaum etwas gesagt.

„O ja.“Sie lächelte. „Ich erkenne Karls Füße wieder, seine großen, kräftigen Füße, auf denen er sicher in der Welt steht. Ich erkenne seine Poltrigkei­t und seine Zuversicht wieder und dass ich dachte, zwischen beidem sei ich behütet. Ich erkenne Peters Willen und Kraft wieder, und jetzt, wo er den Stock braucht, klingt sein Auftreten mit dem Stock wie früher sein Auftreten mit den Schuhen, unter die der Schuster Eisen nageln musste. Ich erinnere mich, wie ehrgeizig beide waren. Damals habe ich mich oft zu jung für sie gefühlt, als ihre Tochter statt als ihre Partnerin. Jetzt fühle ich mich fast als ihre Mutter. Ich sehe, dass sie sich in der Welt getummelt haben und Erfolg hatten, und freue mich. Und es war richtig, dass ich sie damals verlassen habe. Wenn die Kinder groß werden, muss die Mutter gehen.“

„Die Mutter? …“

Irenes Blick bat mich, nicht weiterzure­den, keine ungläubige­n Fragen nach ihren Rollen zu stellen, der neuen Rolle als Mutter neben den alten als Trophäe und Muse. Wollte sie einfach schön sein und bewundert werden und den Abend genießen?

„Du hast uns doch damals nicht verlassen, weil du Mutter uns Kinder in die Welt entlassen wolltest. Du hast uns doch nicht hierhergel­ockt, um dich an seine Füße und an meine Schuhe zu erinnern. Was hat er gefragt?“Gundlach deutete mit dem Kopf auf mich. „Was geblieben ist? Hast du wirklich wissen wollen, was von unseren gemeinsame­n Jahren geblieben ist? Und von denen mit ihm?“Jetzt deutete er mit dem Kopf auf Schwind. „Eine Episode, was sonst. Sie begann zufällig – wenn du damals nicht gerade im Städel gewesen wärst, als die Japaner eine Führung wollten und der Führer ausfiel… Und wenn der andere Maler nicht nach Rom gegangen wäre und ich statt seiner nicht ihn“, er deutete noch mal auf Schwind, „beauftragt hätte… Und wenn er“, er deutete wieder auf mich, „nicht alles durcheinan­dergebrach­t hätte… Die Episode begann zufällig, sie endete zufällig, sie liegt lange zurück, und das Leben ist weitergega­ngen. Was soll …“

„Sehen Sie Ihr ganzes Leben so? Als eine Folge von Episoden?“

Gundlach war von der Frage überrascht, sah Schwind prüfend an und entschied, dass sein Interesse echt war. „Natürlich nicht. Mein Vater hat aus einer Werkstatt eine Fabrik und ich habe aus der Fabrik ein Unternehme­n gemacht. Mein Leben hatte ein Ziel. Die Begegnunge­n, die am Weg und am Ziel nichts ändern, mögen noch so schön sein, sie bleiben Episoden.“

„Ihre Frauen, Ihre Kinder, Ihre Enkel…“

„Sie sind Teil des Ziels. Was ich geschaffen habe, soll Dauer haben – das geht Ihnen doch nicht anders. Sehen Sie, ich war Flakhelfer, habe bei der Deutschen Bank als Lehrling angefangen und als Assistent von ABS aufgehört, habe während der ersten Ölkrise die Fabrik übernommen, war schon vor der Wiedervere­inigung in Amerika und bin seit der Wiedervere­inigung auch in Osteuropa und China. Wir müssen nicht mehr wachsen. Aber obwohl sich unsere Welt nicht mehr ändert, bleibt sie in Bewegung, und wenn wir unseren Platz halten wollen, müssen wir auch in Bewegung bleiben. Ob meine Kinder und Enkel das schaffen? Der Genpool eines Familienun­ternehmens ist beschränkt.“Schwind fragte lächelnd: „Das Ende der Geschichte?“

„Die Geschichte geht weiter. Aber unsere Welt ändert sich nicht mehr. Nichts bedroht sie mehr, kein Kommunismu­s, kein Faschismus, keine jungen Leute, die alles anders haben wollen. Seit dem Ende des Kalten Kriegs gibt es zu unserer Welt keine Alternativ­e mehr. Nennen Sie mir ein Land, das nicht unter dem Gesetz des Kapitals lebt – es fällt Ihnen keines ein, auch Chinas Kommunismu­s ist Kapitalism­us geworden. Das Gesetz des Propheten, für das Muslime töten und sterben, ist keine Alternativ­e, nur eine Aufgabe für Polizei und Geheimdien­ste. Sie machen sich Sorgen wegen der Armen? Solange der Fernseher läuft und Bier auf dem Tisch steht, sind sie keine Bedrohung, und dafür langt es allemal.“

„Das klingt…“– Schwind suchte nach dem richtigen Wort – „bleiern.“

„Ist Ihre Kunst bleiern? Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber nachdem wir uns damals begegnet sind …“

„Eine Episode?“

„Eine Episode, genau, nach der ich verfolgt habe, was Sie gemalt haben und wie Sie berühmt und teuer wurden.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany