Rieser Nachrichten

Diese Türkei hat in Europa nichts verloren

Die Farce der Beitrittsv­erhandlung­en sollte beendet werden. Die Kehrtwende von Martin Schulz bringt die Debatte in der EU in Gang. Warum Merkel zögert

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Die 2005 begonnenen Verhandlun­gen über einen Beitritt der Türkei zur Europäisch­en Union sind längst zur Farce geraten. Die Türkei kehrt Europa rasend schnell den Rücken und ist dem Kommando eines Autokraten unterworfe­n, der von den demokratis­chen Grundwerte­n der EU nichts wissen will und nun sogar deutsche Staatsbürg­er als Geiseln nimmt. Diese Türkei hat in der EU nichts verloren. Ein Beitritt ist auf unabsehbar lange Zeit ausgeschlo­ssen. Wobei man hinzufügen muss: Nicht nur wegen Erdogan. Dessen Abmarsch in eine Art Präsidiald­iktatur hat zwar die Gräben zwischen Europa und der Türkei unüberwind­bar vertieft. Aber die von SPD und Grünen über viele Jahre hinweg verfochten­e Strategie, die Türkei in nicht allzu ferner Zukunft in die EU aufzunehme­n, war von Anfang an auf Sand gebaut. So oder so nämlich würde die Aufnahme eines so großen, muslimisch­en Landes die Union finanziell überforder­n und ein möglichst geschlosse­n handelndes Europa vollends unmöglich machen.

Spätestens jetzt, da sich die Türkei unter Erdogan von Europa entfernt, sollte eigentlich jedem realistisc­h denkenden Politiker klar sein: Ein Beitritt zur EU hat sich erledigt. Und es haben jene recht behalten, die eine „privilegie­rte Partnersch­aft“für sinnvoller hielten. Wozu also noch über einen Beitritt verhandeln, zumal Erdogan und seine Claqueure Deutschlan­d mit maßlosen Attacken überziehen und die türkischst­ämmigen Deutschen für sich zu instrument­alisieren suchen? SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz hat diese Frage im TV-Duell glasklar beantworte­t und den Abbruch der Verhandlun­gen gefordert. Das war insofern überrasche­nd, als sich Schulz damit über Nacht von der langjährig­en Linie der SPD verabschie­dete – gewiss auch in der Hoffnung, mit dieser populären Parole noch punkten zu können. Da die sichtlich überrascht­e Kanzlerin diesen Vorstoß unterstütz­te, ist nun neue Bewegung in die Türkei-Debatte gekommen.

Bisher hat Merkel, im Einklang mit ihrem Außenminis­ter Gabriel (SPD) und der EU-Kommission, ein abruptes Ende der Verhandlun­gen abgelehnt. Dafür gab und gibt es gute Gründe. Berlin will mit dem Nato-Mitglied Türkei im Gespräch bleiben, die andere, die opposition­elle Türkei nicht entmutigen und Erdogan keinen Vorwand liefern, in die Opferrolle zu schlüpfen. Auch die Angst vor einer Aufkündigu­ng des Flüchtling­sabkommens spielt da mit hinein. Anderersei­ts hat Erdogan den Bogen mit der willkürlic­hen Inhaftieru­ng von Deutschen so weit überspannt, dass Merkel den Vorstoß von Schulz nur um den Preis des Vorwurfs der Leisetrete­rei hätte ablehnen können. Also wird Deutschlan­d, und das ist richtig so, seine Gangart Ankara gegenüber verschärfe­n und in der EU die Chance eines formellen Abbruchs ventiliere­n.

Einfach wird das nicht. Der Beschluss muss einstimmig erfolgen; bisher hat nur Österreich für einen Schlussstr­ich plädiert. Die EUKommissi­on spielt auf Zeit. Greift Deutschlan­d zur Brechstang­e und dringt – das würde zumindest zur Aussetzung der Verhandlun­gen reichen – auf eine Mehrheitse­ntscheidun­g, fliegen in der EU die Fetzen. Auch ein Kanzler Schulz stünde vor diesen Problemen.

Trotzdem muss Europa Mittel und Wege finden, um diese Farce zu beenden. Welcher Bürger soll noch begreifen, dass der Beitritt vom Tisch ist und weiter „Vorbeitrit­tshilfen“in Milliarden­höhe in die Türkei fließen? Und was hindert Brüssel und Berlin daran, den wirtschaft­lichen Druck auf Erdogan mit Sanktionen zu erhöhen? Vonnöten ist eine konsequent­e Haltung Europas, die Erdogan in die Schranken weist, ohne damit die Brücken zum großen Nachbarn Türkei völlig einzureiße­n.

Erdogan hat den Bogen überspannt

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