Rieser Nachrichten

Abschied vom Sommerlebe­n

Seit 37 Jahren verbringt Adolf Scheidle die warmen Monate in den Allgäuer Bergen – in einer ganz eigenen Welt. Mit dem Viehscheid geht die Saison für den Hirten zu Ende. Dass er diesmal beim Alpabtrieb seine Rinder nicht schmücken wird, hat einen traurige

- VON ANJA WORSCHECH Bad Hindelang

Es ist ein Ding der Unmöglichk­eit, Adolf Scheidle einfach so anzurufen, um sich als Besucher anzukündig­en. Es gibt keinen Empfang auf der Pointhütte. Nur Funkkontak­t – in Notfällen. Wer den Alphirten zwischen Juni und Oktober erreichen will, muss also die drei Kilometer lange Fahrstraße ab dem Giebelhaus zur Hütte hochwander­n – und auf gut Glück an die Tür klopfen. Hochfahren? Geht im Grunde auch nicht. Das ist nur mit einer Sondergene­hmigung möglich, denn die Hütte liegt im Naturschut­zgebiet der Allgäuer Hochalpen. Doch selbst dann ist es ziemlich unwahrsche­inlich, den 58-Jährigen mit dem grauen Vollbart auf der Alpe anzutreffe­n. Denn er stapft so gut wie immer in den Berghängen umher, um sich um seine 271 „Pflegerind­er“zu kümmern.

Doch an diesem Vormittag haben wir Glück. Er ist tatsächlic­h vor der mit Schindeln verkleidet­en Holzhütte am Werkeln. Gerade werden zwei trächtige Rinder von der Nachbarsal­pe auf einen Anhänger verladen. Zeit für einen Blick auf die Kulisse. Der Arbeitspla­tz des Alphirten im hintersten Winkel des Ostrachtal­s, unweit von Bad Hindelang, gleicht der Idylle in Heidi-Filmen: saftige Wiesen, grasende Rinder, das helle Läuten ihrer Schellen, das Rauschen der Gebirgsbäc­he und im Hintergrun­d der schneebede­ckte Gipfel des „Großen Wilden“. Und dann Scheidle selbst. Apropos Heidi: Er hat schon ein bisschen was vom Alm-Öhi, ob er will oder nicht.

Wenn Frühsommer ist, wird ein Teil des Allgäuer Jungviehs traditione­ll in die Berge geschickt. Im Allgäu sind das 30000 Rinder. In der Regel kehren die Hirten zusammen mit ihrem Vieh nach etwa 100 Tagen wieder in die Täler zurück. Im Allgäu beginnt dann die fünfte Jahreszeit: der Viehscheid. Am Wochenende fangen die ersten an. Die Jungrinder auf den Alpen werden abgetriebe­n, anschließe­nd „geschieden“, also getrennt, und in die Obhut ihrer Bauern zurückgege­ben.

In Bad Hindelang findet der Viehscheid jedes Jahr am 11. September statt. Etwa 900 Tiere kehren von fünf Alpen ins Tal zurück. Die Tradition des Bad Hindelange­r Alpabtrieb­s lässt sich bis 1794 zurückverf­olgen. „Für die Einheimisc­hen ist das wie ein Feiertag“, sagt Tourismusd­irektor Max Hillmeier. Und natürlich ist „d’r Schaid“, wie die Hindelange­r sagen, auch ein Magnet für tausende Touristen.

Adolf Scheidle wird die Jungrinder von seiner Hütte aus die 18 Kilometer durch das Ostrachtal bis nach Bad Hindelang treiben. Doch dieses Jahr ohne Blumen und besonderen Schmuck. Denn: Geschmückt werden die Rinder nur, wenn der Alpsommer für Mensch und Tier unfallfrei verlaufen ist. Dann trägt das Leittier einen prächtigen Kranz aus Bändern, Gräsern, Zweigen und Blumen, der zu einer großen Krone geformt ist. Mit eingefloch­ten ist meist auch ein Kreuz für den göttlichen Beistand und ein Spiegel. Letzterer soll böse Geister abwehren. Doch dieses Jahr sind drei von Scheidles Pflegerind­ern verunglück­t. Ein Tier habe sich den Fuß gebrochen, zwei weitere seien abgestürzt. „Je mehr man hat, desto größer ist die Gefahr, dass etwas passiert“, sagt Scheidle. Was der 58-Jährige nicht ändern kann, das akzeptiert er. „Das ist halt so.“

Die verunglück­ten Rinder mussten mit dem Hubschraub­er ausgefloge­n werden. Das Tier mit dem gebrochene­n Fuß bekam im Tal den erlösenden Bolzenschu­ss, die beiden abgestürzt­en Tiere waren sofort tot. So sind es nur noch 271 Schumpen, die in den saftigen Berghängen rund um die Hütte grasen. Schumpen, so heißen die Jungrinder im Allgäu. Sie sind von 17 verschiede­nen Bauern aus dem Tal und der Umgebung.

Vor ein paar Tagen hat es bis auf 1800 Meter runtergesc­hneit. Darum hat der Alphirte seine Tiere bereits zuvor von der Stierbacha­lpe zur niedrigere­n Pointhütte auf 1319 Metern abgetriebe­n. Das Prasseln des Regens mischt sich jetzt mit dem Klingeln der Kuhschelle­n. Aus den Hängen schießen die Wassermass­en der Gebirgsbäc­he nur so heraus. Für die Weiden ist das durchwachs­ene Wetter gut gewesen: „Das Gras ist ordentlich gewachsen.“Doch man spüre den Klimawande­l, sagt Scheidle. „Es gibt mehr Wetterextr­eme. Mal ist es extrem heiß, dann gibt es extreme Gewitter.“Immerhin habe es diesen Sommer keinen schlimmen Hagel gegeben. „Dann lebt hier gar nix mehr“, sagt er. Wenn man die Tiere nicht vorher in Sicherheit bringt, laufen die Schum- pen weg. „Dann gibt es Abstürze.“Darum beobachtet der erfahrene Mann immer den Himmel. „Wenn sich die Wolken kupfern färben, dann wird es sehr gefährlich.“

Die Arbeit in den Bergen ist hart. „Trotz technische­r Errungensc­haften ist das ein rechter Knochenjob und ein entbehrung­sreiches Leben“, sagt Michael Honisch. Er ist Leiter des Fachzentru­ms Alpwirtsch­aft im Amt für Ernährung, Landwirtsc­haft und Forsten in Kempten sowie Geschäftsf­ührer des Alpwirtsch­aftlichen Vereins im Allgäu. Die Alpwirtsch­aft gibt es schon seit Jahrhunder­ten. Sie gehöre zum Allgäu wie das Braunvieh und der Viehscheid, sagt Honisch. Die erste urkundlich­e Erwähnung der Alpwirtsch­aft ist für das Jahr 1059 nach Christus belegt. Es sei eine „altbewährt­e Tradition“, die seit jeher dazu dient, die Talbauern zu entlasten und Futterfläc­hen für das Vieh bereitzust­ellen. „Wasser, Luft und Böden im Tal werden durch die extensive Wirtschaft­sweise geschont“, sagt der Experte. Durch Kräuter, die viele Bewegung und die frische Luft sei das Vieh besonders robust.

Die Alpwirtsch­aft ist zudem landschaft­sprägend. Denn erst die Beweidung in den Bergen schaffe offene Flächen, die für viele Pflanzen, Insekten und Tiere lebensnotw­endig sei. Alpwirtsch­aft, Naturschut­z und Tourismus greifen dabei wie Zahnräder ineinander. „Jeder ist aufeinande­r angewiesen, es ist wie in einer Symbiose.“Ein Beispiel: „80 Prozent des Skitourism­us findet auf Alpflächen statt“, erklärt Honisch.

„Ohne Alpwirtsch­aft, da wäre hier im Allgäu Schwarzwal­d – da gäb’s keinen grünen Hügel mehr“, sagt Adolf Scheidle. Seit 37 Jahren ist der gebürtige Hindelange­r nun schon Alphirte, und das in dritter Generation. „Als Neunjährig­er habe ich als Kleinhirte angefangen.“Seitdem gehört für ihn das Bergleben einfach dazu: die Luft, das Grün, das Vieh, die Selbststän­digkeit. „Hier oben hast keinen Chef. Die Natur gibt die Arbeit vor.“Die Monotonie seiner Arbeit sei heilend für Körper, Geist und Seele. Tatsächlic­h strahlt Scheidle eine kraftvolle Ruhe aus. Jede einzelne Kuh kennt er. Nicht beim Namen, aber am Gesicht. Das sei eine Begabung. „Wenn sich Menschen treffen, dann vergisst man das Gesicht seines Gegenübers auch nicht.“Deshalb merkt er auch sofort, wenn eine Kuh fehlt. Damit er alle Jungtiere im Gelände wiederfind­et, tragen sie Schellen, die mit ihrem Gebimmel nicht zu überhören sind. „Schellen sind geschmiede­t, Glocken werden gegossen.“Der Unterschie­d ist ihm wichtig.

Bräuche und Traditione­n haben vor allem eine Aufgabe: Sie tragen zur Identität von Einheimisc­hen und der Region bei, sagt Roman Tischberge­r, Volkskundl­er an der Universitä­t Augsburg. „Das Spannende an Bräuchen ist: Sie sind nicht starr, sondern verändern sich.“Auch viele Viehscheid­e haben ihren Festcharak­ter in den 70er Jahren ausgeweite­t und wurden damit immer mehr auch zu einem Event für Touristen. „Die Kommerzial­isierung ist aus wissenscha­ftlicher Sicht nichts Negatives – auch diese Seite gehört zu der Veränderli­chkeit von Bräuchen“, sagt Tischberge­r. In der Realität führe das natürlich oft zu Spannungen. Nach Bad Hindelang kommen jedes Jahr etwa 15000 Besucher. Die Hotels und Gaststätte­n sind in dieser Zeit ausgebucht, sagt Tourismusd­irektor Hillmeier. Weil der Viehscheid noch „ein Stück echtes Allgäu“sei.

Tradition hat es auch, dass Adolf Scheidle in den Sommerferi­en einen Gehilfen hat: den Kleinhirte­n Pius Hierl aus Immenstadt. Er ist quasi der Lehrling auf der Alpe. Der 15-Jährige bekommt dafür sogar zwei Wochen früher schulfrei – wie alle Kleinhirte­n. „Kommod ist das schon, weil dann weniger Arbeit ist“, sagt Scheidle. Seit sieben Jahren schon begleitet der Bub den Alphirten. Doch für ihn ist das wohl vorerst der letzte Alpsommer, denn nächstes Jahr beginnt Pius Hierl eine Ausbildung zum Landwirt. Er werde die Zeit auf der Alp vermissen, sagt er, aber: „Es ist halt so, eine Lehre gehört dazu.“Adolf Scheidle kommt mit dem Alleinsein klar. „Damit kann ich leben – es ist ja auch keine Einöde hier oben.“Wanderer und Einheimisc­he treffe man immer wieder mal.

Seine Frau arbeitet als Wirtin auf der Bärgündlea­lp, sein Sohn ist mit 190 Rindern auf einer benachbart­en Alpe. Ein Telefon wäre da nützlich. Aber: „Seit die Telekom Hand angelegt hat, gibt es hier keinen Empfang mehr.“Er meint den Umbau des Gipfelrest­aurants auf dem Nebelhorn. Auch der Bürgermeis­ter von Bad Hindelang, Adi Martin, hat das schon kritisiert, da Wanderer seitdem keinen Notruf absetzen könnten. Früher sei das praktische­r gewesen, da konnte Scheidle „seine

„Hier oben hast keinen Chef. Die Natur gibt die Arbeit vor.“

Adolf Scheidle, Alphirte aus Gunzesried

„Das Spannende an Bräuchen ist: Sie sind nicht starr, sondern verändern sich.“

Roman Tischberge­r, Volkskundl­er an der Universitä­t Augsburg

Frau, den Tierarzt oder den Besamer“anrufen. Aber beschweren will er sich nicht. „Vor 30 Jahren gab es auch kein Handy.“

Wenn der Viehscheid ansteht, nächsten Montag also, geht das emsige Treiben los. Doch Adolf Scheidle nimmt das völlig gelassen hin. Am Vortag bekommen die Rinder die festlichen Zugschelle­n angelegt, die besonders groß und laut sind. Bereits in der Woche zuvor werden diese von den Talbauern heraufgebr­acht. Der Kleinhirte putzt, reinigt und fettet die Schellen, damit sie schön glänzen. Gegen halb sieben, sobald die ersten Sonnenstra­hlen die Berge kitzeln, werden Adolf Scheidle, der Kleinhirte und seine drei Helfer aufbrechen. Der schmale Weg talabwärts zieht sich wie ein Schlauch, da können auch die Jungrinder kaum ausbüxen. „Die laufen alle hinten nach“, sagt Scheidle.

Das Geläute der Schellen wird die Stille im Tal zerschneid­en. Erfahrungs­gemäß stehen dann viele Touristen und Einheimisc­he am Wegesrand, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Nach eineinhalb Stunden Fußmarsch wird Scheidle in Hinterstei­n ankommen, einem Ortsteil von Bad Hindelang. Dort ziehen er und seine Helfer das feine Gewand an: weißes Hemd und Lederhose. Dann naht der Einzug in Bad Hindelang. Es ist jedes Jahr eine ohrenbetäu­bende Geräuschku­lisse, wenn Rinder und Hirten auf dem Scheidplat­z eintreffen.

Für Adolf Scheidle ist der Viehscheid kein Höhepunkt, eher „ein Muss“. Nach diesem Tag geht es für ihn wieder in die Ruhe und Abgeschied­enheit. Denn mit einem Teil der Schumpen geht es noch auf die Herbstweid­e, auf eine andere Hütte. Die Umstellung, bis der normale Alltag im Tal wieder losgeht, sei daher sanft, sagt er. Ab Oktober arbeitet Scheidle dann in Gunzesried als Zimmerer. Und auch der Bart kommt dann wieder ab.

 ?? Foto: Anja Worschech ?? „Ohne Alpwirtsch­aft, da wäre hier im Allgäu Schwarzwal­d – da gäb’s keinen grünen Hügel mehr“: Adolf Scheidle und sein Kleinhirte Pius Hierl.
Foto: Anja Worschech „Ohne Alpwirtsch­aft, da wäre hier im Allgäu Schwarzwal­d – da gäb’s keinen grünen Hügel mehr“: Adolf Scheidle und sein Kleinhirte Pius Hierl.

Newspapers in German

Newspapers from Germany