Sie lobten und sie schlugen sich
Der letzte Parlamentstag der Großen Koalition verläuft kurios: Einerseits gehen Union und SPD in den Wahlkampf über, andererseits feiern sie ihre Arbeit. Nur einer muss draußen bleiben
Berlin 19 Tage vor der Bundestagswahl ist der Terminkalender von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz gut gefüllt. An diesem Dienstag stellt er sich den Fragen von vier Youtube-Videobloggern und tritt auf dem Marktplatz von Peine auf. Doch ein wichtiger Termin fehlt in seinem Kalender – die 245. und zugleich letzte Sitzung des Deutschen Bundestags mit ihrer fast vierstündigen Grundsatzdebatte über die „Situation in Deutschland“findet ohne ihn statt. Weil der SPDChef weder ein Bundestagsmandat noch ein Amt in der Bundesregierung hat, kann er auch nicht im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes für sich und seine Politik werben.
Die Bühne, sich noch einmal unter dem großen Bundesadler an der Stirnseite des Parlaments in Szene zu setzen, haben daher Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Spitzenkandidaten der Linken und der Grünen, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch sowie Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, exklusiv für sich. Und sie nutzen die Gelegenheit, im Parlament reichlich Wahlkampf zu betreiben. Für die SPD übernehmen Fraktionschef Thomas Oppermann und Vizekanzler Sigmar Gabriel den Spagat, einerseits sich als Teil der Großen Koalition zu präsentieren, andererseits auch auf Distanz zur Union zu gehen und die Unterschiede zwischen den beiden Regierungsparteien herauszuarbeiten.
Gabriel attackiert die Kanzlerin auf dem Gebiet der Außenpolitik. Nachdem er erst ausdrücklich die Zusammenarbeit in der Koalition als „immer fair, immer belastbar“gelobt hat, nennt er den Beschluss der Nato, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung auszugeben, schlichtweg „irre“. Deutschland müsse wieder eine Politik der Entspannung und der Abrüstung betreiben und sich auf seine Rolle als „Friedensmacht“besinnen. Nicht die Verdoppelung des Rüstungsetats, sondern eine Verdoppelung der Bildungsausgaben.
Noch deutlicher wird Fraktionschef Oppermann. Er knöpft sich in einer ungewöhnlich kämpferischen Rede die Kanzlerin persönlich vor. Ja, gibt er zu, diese Regierung habe viel bewegt und dafür gesorgt, dass das Leben vieler Menschen spürbar besser geworden sei. Aber schon im gleichen Atemzug schränkt er ein, dass es der SPD nicht immer gelungen sei, sich gegen Merkel durchzusetzen, mehr noch, wie vor ihm Sahra Wagenknecht und nach ihm Cem Özdemir bläst er zur Attacke auf die Kanzlerin und verschärft den Ton. So sei eine effektive Mietpreisbremse ebenso an ihr gescheitert wie die solidarische Mindestrente. „Sie lassen die kleinen Leute im Stich“, sagt er zu Merkel. „Dieses Land braucht keine Bundeskanzlerin, die nur sozialdemokratisch redet, dieses Land braucht einen Bundeskanzler, der sozialdemokratisch handelt.“Das wiederum bringt Unionsfraktionschef Volker Kauder auf die Palme. Es sei der alte Fehler der SPD, dass sie „gleichzeitig Regierung und Opposition“sein wolle.
Angela Merkel, sichtlich gut gelaunt und entspannt, nimmt die heftigen Vorwürfe des Koalitionspartners auf der Regierungsbank reglos zur Kenntnis, immer wieder wendet sie sich an ihren Sitznachbarn, Vizekanzler und Außenminister Sigmar Gabriel, und plaudert angeregt mit ihm. Schon während ihrer Rede gibt es mehrere lautstarke Zwischenrufe der SPD, weil Merkel Beschlüsse der Großen Koalition würdigt, die die SPD für sich reklamiert. Doch Merkel lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, einmal wendet sie sich direkt an SPD-Generalsekretär Hubertus Heil: „Gegen meinen Willen und gegen die starke Unionsfraktion konnten Sie gar nichts durchsetzen.“Man könne doch stolz sein auf die gemeinsamen Erfolge. „Wir haben eine Menge miteinander eraber reicht.“Deutschland gehe es gut, noch nie hätten so viele Menschen einen Job, die Wirtschaft boome.
Gleichwohl warnt sie davor, sich auf diesen Erfolgen auszuruhen. Wegen der Digitalisierung stehe man an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, es sei nötig, jetzt die Weichen zu stellen, dass Deutschland auch in 15 Jahren noch wirtschaftlich erfolgreich, wettbewerbsfähig und sozial gerecht sei. Die Probleme der Automobilindustrie würden wie in einem Brennglas diese Herausforderungen zeigen. Eindringlich wirbt
Nur einmal ätzt die Kanzlerin gegen die SPD