Rieser Nachrichten

Darf Büroluft schmutzige­r sein als Straßenluf­t?

Im TV-Fünfkampf sagt AfD-Politikeri­n Alice Weidel, dass die Grenzwerte für Stickoxide in Büroinnenr­äumen weniger streng sind als draußen. Aber stimmt das? Wir erklären, wo welche Werte wirklich gelten

-

Kann das stimmen? Was ist da wirklich dran? Wir leben in einer Zeit, in der sich streitbare Behauptung­en schneller verbreiten als je zuvor. Wer prüft da noch, ob die vermeintli­chen Tatsachen auch stimmen? Wir! Heute geht es um Grenzwerte für Stickoxide.

Im TV-Fünfkampf der kleinen Parteien stellte AfD-Politikeri­n Alice Weidel eine erstaunlic­he Behauptung auf. Es geht um die Zukunft des Diesel-Motors und dessen Stickoxid-Emissionen. Weidel sagt, dass in Büroinnenr­äumen 950 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft erlaubt sind, auf der Straße aber nur 40 Mikrogramm – und dass noch niemand diesen Unterschie­d erklären konnte. Wird der Diesel also unnötig kaputtregu­liert?

● Außenluft Der Grenzwert für Stickstoff­dioxid (NO2) in der Außenluft beträgt tatsächlic­h 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, berichtet das Umweltbund­esamt. Dieser Durchschni­ttswert spiegelt die mittlere NO2-Belastung eines ganzen Jahres wider. An 18 Stunden im Jahr erlaubt es der Gesetzgebe­r sogar, dass der Stundengre­nzwert von 200 Mikrogramm überschrit­ten wird. Beide Grenzwerte gehen zurück auf eine Empfehlung der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO), berichtet Marcel Langner, am Umweltbund­esamt zuständig für Grundsatzf­ragen der Luftreinha­ltung. Der WHO-Wert ist nicht aus der Luft gegriffen, er basiere auf medizinisc­hen Studien dazu, wie Stickoxide die Gesundheit schädigen. Im Jahr 1999 habe die EU den Grenzwert erstmals in eine Richtlinie übernommen, 2008 wurde er bestätigt. Seit 2010 muss er eingehalte­n werden. Betroffene Städte konnten zwar eine fünfjährig­e Fristverlä­ngerung beantragen, seit 2015 wird es für sie ernst. Dass an einigen Standorten gegen die Grenzwerte verstoßen wird, gibt zum Beispiel der Deutschen Umwelthilf­e die Möglichkei­t, zu klagen. Stuttgart etwa drohen Fahrverbot­e. Die Grenzwerte in der EU, sagt Langner, sind Ergebnis eines politische­n Prozesses. Dort sei man aber überzeugt gewesen, dass der Grenzwert leicht einzuhalte­n ist, schließlic­h hat man auch für Autos strikte Grenzwerte erlassen. DieselFahr­zeuge dürfen nach der neuesten Norm nicht mehr als 80 Milligramm Stickoxide (NOx) pro Kilometer ausstoßen. Heute weiß man, dass dieser Wert bei vielen Dieselauto­s auf der Straße um ein Vielfaches überschrit­ten wird. Sauber sind viele nur auf dem Prüfstand.

● Büro Wie sieht es aber nun im Büro aus? Dort existiert in Deutschlan­d ein Richtwert. Er ist tatsächlic­h höher als der Grenzwert für Außenluft und beträgt 60 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft im Wochendurc­hschnitt. Festgelegt wurde er in den 90er Jahren von einer Vorläufer-Arbeitsgru­ppe des heutigen Ausschusse­s für Innenraumr­ichtwerte. Er ist zudem ein strenger Richtwert, bei dessen Erreichen „unverzügli­ch zu handeln ist“, berichtet das Umweltbund­esamt. Dass der Büro-Wert mit 60 Mikrogramm höher ist als der Außenluft-Wert mit 40 Mikrogramm, bezeichnet Wolfgang Straff, Umweltmedi­ziner am Umweltbund­esamt, als unglücklic­h. „Bei der Festlegung in den 90er Jahren kannte man den EU-Grenzwert noch nicht“, sagt er. Man müsste den Innenluft-Wert deshalb anpassen: „Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, weshalb man in Innenluft einen höheren Wert akzeptiere­n sollte als in Außenluft.“ ● Industrie Der Grenzwert von 950 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft gilt in Deutschlan­d nur für Arbeitende in der Industrie und im Handwerk, wo „aufgrund der Verwendung oder der Erzeugung bestimmter Arbeitssto­ffe eine erhöhte Stickstoff­dioxid-Belastung zu erwarten ist“, berichtet das Umweltbund­esamt. Das Gas entstehe zum Beispiel beim Schweißen, der Dynamit-Herstellun­g oder der Benutzung von Dieselmoto­ren. Der Wert gelte für gesunde Arbeitende an acht Stunden pro Tag und für maximal 40 Stunden in der Woche.

● Schädlichk­eit Warum weichen aber die Grenzwerte überhaupt ab? Mediziner am Helmholtz Zentrum in München nennen als Folgen einer langfristi­gen Stickoxid-Belastung Lungenerkr­ankungen, Diabetes, ein höheres Risiko für Schlaganfä­lle und eine erhöhte Sterblichk­eit. Der hohe Industrie-Grenzwert gelte deshalb für gesunde Erwachsene in arbeitsmed­izinischer Betreuung und nur für einen begrenzten Zeitraum, betont Straff. Grenzwerte an den Straßen müssten sehr viel niedriger sein, da auch Schwangere, Kinder oder Menschen mit Vorerkrank­ungen dort wohnen können.

Fakt ist: Der Richtwert für Büros ist mit 60 Mikrogramm Stickstoff­dioxid pro Kubikmeter und Woche leicht höher als der Grenzwert für Außenluft von 40 Mikrogramm im Jahr. Die Werte gelten wegen des unterschie­dlichen Beurteilun­gszeitraum­s als schlecht vergleichb­ar. Der Innenraumr­ichtwert gilt zudem als überholt. Der Grenzwert von 950 Mikrogramm gilt nur für spezielle Jobs in der Industrie, zum Beispiel bei Schweißarb­eiten. AfD-Politikeri­n Weidel irrt. Michael Kerler

 ?? Foto: Jacob Lund, Fotolia ?? Ist im Büro mehr Stickoxid erlaubt als auf der Straße?
Foto: Jacob Lund, Fotolia Ist im Büro mehr Stickoxid erlaubt als auf der Straße?
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany