Rieser Nachrichten

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (28)

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DZwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

as Gegenständ­liche, das Abstrakte, die Fotografie als Material, das Glas als Gegenstand und als Bild, die Strukturen und die Farben – Sie haben mit allem gespielt, wie ein kleines Kind, das nach einem langen Tag, an dem seine großen Geschwiste­r hiermit und damit gespielt haben, inmitten des Spielzeugs sitzt und mal dieses und mal jenes Stück greift. Sie sind der Künstler, dem alles zu Gebot steht und der von allem Gebrauch macht und zu dessen Kunst es keine Alternativ­e mehr gibt.“

Irene lächelte Schwind an. „Bist du das?“

„Ich?…“

„Ich bin gleich zu Ende. Sie sind es, weil die Welt sich nicht mehr ändert. Sie bleibt in Bewegung, aber die Bewegungen in Wirtschaft und Finanzen und Kultur und Politik wiederhole­n sich nur noch, sie ändern die Welt nicht mehr. Auch Ihre Kunst ist in Bewegung, manchmal in ein und demselben Werk. Deshalb ist sie schön. Aber sie ändert

nichts.“Er wurde ernst. „Ja, ich will Irenes Bild wieder bei mir zu Hause haben.“

„Was soll die Kunst ändern? Ich habe gemalt, was ich gesehen habe. Manchmal habe ich gesehen, was es nicht gibt, was es aber geben könnte, und auch das gemalt. Ich habe so gut gemalt wie möglich. Das ist alles.“

„Ich weiß. Sie wollten nicht der Künstler werden, zu dessen Kunst es keine Alternativ­e gibt. Aber so, wie die Welt und die Kunst sind, verlässlic­h, alternativ­los, überschaub­ar, kann, wer sich auf sie einlässt, nichts anderes werden. Er kann einen Gag präsentier­en oder einen Skandal produziere­n. Aber auch das ist immer wieder das Gleiche.“

„Was bringt Schmelzen?“

„Ich weiß nicht. Ein Atomkrieg, ein Meteoriten­einschlag, eine andere Katastroph­e, die die Welt auslöscht, die wir kennen. Aber ich finde die Welt nicht bleiern. Ich mag das Blei zum sie so, wie sie ist, und Sie mögen sie auch. Sie ist wieder, wie sie immer war, bis Kommunismu­s und Faschismus sie durcheinan­dergebrach­t haben. Es gibt die Reichen und die anderen, und die Reichen kümmern sich, und die anderen schicken sich.“

„Kümmern sich?…“Gundlach lachte. „Kümmern sich darum, dass sich nichts ändert.“

Ich sah zu Irene und bekam Angst. Die Wirkung des Kokains ließ nach. Ihr Gesicht zeigte ihre Erschöpfun­g und ihre Verzweiflu­ng darüber, dass die Krankheit sie wieder in ihre Gewalt nahm. Sie sah meinen Blick, ihr Ausdruck wurde trotzig, und sie stand auf. Sie ging mit schwerem Schritt zur Treppe und die Treppe hoch.

„Ich erinnere mich an die Frauen“, Schwind war bei der Hoffnung und dem Aufbruch der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, „die schönen, klugen Frauen aus gutem Haus, die sich damals zu den Linken geschlagen haben, aus politische­r Überzeugun­g und weil sie spürten, wo die Avantgarde ist, wo es lebendig und prickelnd zugeht. Noch ehe ich Irene bei Ihnen begegnet bin, habe ich sie bei einer Diskussion in der Universitä­t erlebt. Sie hat nur dagesessen und zugehört, aber wie sie dasaß und zuhörte – es war klar, dass hier die Zukunft verhandelt wurde.“

„Die Zukunft?“Gundlach lachte verächtlic­h.

Der Pilot kam, wir räumten den Tisch ab, trugen den Nachtisch auf und spülten danach ab, ich immer mit dem Ohr in Richtung Treppe. Als wir in der Küche fertig waren, nahm der Pilot eine Flasche Rotwein und ging. Ich sah ihm nach, sah ihn sich auf die Mole setzen und trinken und rauchen. Seine Zigarette glühte. Es war dunkel geworden.

Dann kam Irene die Treppe hinunter. Hatte sie die Dunkelheit abgewartet? Als ich zwei Kerzen auf den Balkon bringen wollte, bedeutete sie mir, eine genüge.

Ich war Gundlachs und Schwinds Gespräch nicht gefolgt. Es war kurz laut geworden, dann wieder ruhig. Als Irene saß, fragte Gundlach: „Du hast noch immer nicht gesagt, was du damals getan hast.“

„Ob ich einen umgebracht habe? Meinst du das? Ich war eben dabei. Ich wusste noch nicht, dass sich nichts ändert. Niemand wusste es. Wir dachten, wenn es den Westen und den Osten gibt, kann es auch etwas geben, das besser als beide ist. Jetzt, wo es die beiden Welten nicht mehr gibt… Ich verstehe, was du sagst. Vielleicht verstand ich es schon, als ich in der DDR lebte. Sie war erledigt. Erschöpft von den ideologisc­hen Übertreibu­ngen, den leeren Ritualen, den Anstrengun­gen, die zu nichts geführt hatten.“„Warum so traurig?“„Kennt ihr das? Das Gefühl, wenn es so weit ist, müsstet nicht nur ihr sterben, sondern mit euch ginge die Welt unter? Man könnte meinen, wenn man tot ist, macht es keinen Unterschie­d, ob die Welt weiterbest­eht oder untergeht. Aber es macht einen.“

Gundlach hatte keinen Sinn für den Tod des Einzelnen und das Ende der Welt. „Wie lebst du hier illegal?“

„Mein Aufenthalt hier?… Es ist nicht schwer, wenn man in Deutschlan­d Geld auf dem Konto hat und hier mit Kreditkart­e bezahlt und Geld abhebt und den Staat nicht braucht. Ein bisschen schwierig war, das Bild hierher mitzubring­en. Wer reist schon mit solchem Gepäck.“

Schwind hatte Gundlach und Irene mit sichtbarer Ungeduld zugehört. „Das Ende der Welt, das Ende der DDR – alles schön und gut. Ich will endlich wissen, wie ich zu meinem Bild komme. Zu meinem Bild – ich habe es gemalt, habe es gerichtet, als er es zerstört hat“, Schwind zeigte mit dem Finger auf Gundlach, „habe dafür bezahlt …“

„Dafür bezahlt?“Gundlach war empört. „Sie hatten genug von Irene und haben sie mir gebracht – das nennen Sie bezahlt? Ich weiß, warum Sie das Bild wollen – Sie haben nie wieder so gemalt wie damals. Seitdem sind Sie epigonal und gefällig durch die Kunstgesch­ichte spaziert.“

„Ich bin…“

„Sie sind ein ausgebrann­ter Maler, der seinen Anfängen nachweint. Weinen Sie sich anderswo aus. Hier haben Sie nichts zu melden, nicht moralisch und nicht juristisch. Sie haben kein Recht auf das Bild, das Sie verkauft, und kein Recht an Irene, die Sie verraten haben. Packen Sie Ihre Sachen, und lassen Sie sich von ihm“, er zeigte mit dem Kopf zu mir, „zurückbrin­gen.“

„Was für ein arrogantes Arschloch Sie sind! Alles wegen Ihrem blöden Geld? Das Ihnen die Frau nicht kaufen konnte und nicht mal das Bild? Sie haben es so sinnlos gesammelt wie Bierdeckel. Sie sind ein Bierdeckel­sammler, und die Welt ohne Alternativ­e, von der Sie geredet haben, ist die Welt der Bierdeckel.

Begreifen Sie nicht? Was zählt, können Sie …

„Ha“, Gundlach lachte höhnisch, „der Maler des globalen Kapitalism­us offenbart sich als Kapitalism­uskritiker. Warum verkaufen Sie Ihre Bilder für Millionen?

»29. Fortsetzun­g folgt

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