Rieser Nachrichten

Gerät unsere Welt aus den Fugen?

Terror, Massenfluc­ht, Nationalis­mus: Viele Menschen fragen sich, warum wir gerade jetzt so viele Konflikte und Krisen erleben. Der Außenexper­te Thomas Jäger erklärt die Ursachen und kritisiert ein Versagen der Parteien im Wahlkampf

- Thomas Jäger:

Herr Professor Jäger, viele Menschen blicken angesichts vieler Krisen mit Sorge auf die Weltlage. Spielt angesichts dieser Probleme die Außenpolit­ik im Wahlkampf eine zu geringe Rolle?

Wenn man sich vergegenwä­rtigt, vor welchen Problemen heute Europa und Deutschlan­d stehen, ist es geradezu erstaunlic­h, dass die Außenpolit­ik in diesem Wahlkampf eigentlich überhaupt keine Rolle spielt. Dabei ist die Außenpolit­ik eine der größten Herausford­erungen, weil mit ihr alle innenpolit­ischen Entwicklun­gen verbunden sind: Die gesamte soziale Frage von der Rente, über den Arbeitsmar­kt bis hin zur Sicherheit­spolitik. Wenn es uns nicht gelingt, unseren Export beizubehal­ten, wird das sämtliche innenpolit­ische Bedingunge­n grundlegen­d verändern.

Taugt das Thema nicht für die Auseinande­rsetzung zwischen den Parteien? Jäger: Doch. Früher haben große außenpolit­ische Fragen die Bundestags­wahlen mitentschi­eden: Die Frage der Westbindun­g brachte Konrad Adenauer die Kanzlersch­aft und die absolute Mehrheit. Es gab zentrale Themen, wie die Ostpolitik von Willy Brandt, die deutsche Einheit unter Helmut Kohl oder den Irak-Krieg bei Gerhard Schröder. Heute werden außenpolit­ische Fragen ausschließ­lich für taktische Manöver benützt. FDP-Chef Christian Lindner hat versucht, mit der Russland-Politik zu punkten. Der SPDKandida­t Martin Schulz brachte den Abzug der amerikanis­chen Nuklearwaf­fen aus Deutschlan­d oder den Abbruch der EU-Türkei-Verhandlun­gen ins Spiel. Das alles sind nur Versuche, Stimmungen zu instrument­alisieren. Leider gibt es in diesem Wahlkampf überhaupt keine ernsthafte Debatte über die außenpolit­ischen Herausford­erungen unserer Zeit.

Was sind die Herausford­erungen, über die wir sprechen müssten?

Jäger: Zu den größten außenpolit­ischen Herausford­erungen zählt, dass die Europäisch­e Union in einem miserablen Zustand ist. Doch der Zusammenha­lt Europas ist von wesentlich­em Interesse für Deutschlan­d. Wir müssten im Wahlkampf darüber reden, wie man mit den Briten umgehen soll. Über die Beziehunge­n zu den USA und zu Russland. Und vor allem, wie wir das Umfeld Europas vom Mittleren Osten über Nordafrika stabilisie­ren können. Hier nur auf die Entwick- zu verweisen, ist mehr als optimistis­ch …

Warum erleben wir gerade jetzt so viele Konflikte und Krisen?

Jäger: Das hat mehrere Ursachen. Ein Grund für diese Entwicklun­g ist, dass es keine Ordnungsmä­chte mehr wie zu Zeiten des Ost-WestKonfli­kts gibt. Damals prägten die Supermächt­e die internatio­nale Ordnung. Heute gewinnen einzelne Staaten andere Handlungss­pielräume. So kann sich etwa die Türkei Streit mit ihren Nato-Partnern erlauben. Auch die Globalisie­rung ist eine Ursache: Sie schafft Gewinner und Verlierer. Jetzt erleben wir die Phase, in der sich die Globalisie­rungsverli­erer organisier­en. Daraus entspringt der wachsende Nationalis­mus. Dieses Phänomen können wir auch in den USA beobachten, wo sich mit der Wahl von Donald Trump die Gewichte innenpolit­isch verschoben haben. In vielen anderen Regionen der Welt erleben wir den Verfall von Staaten. Dies führt zu Kriegen und Flüchtling­sströmen.

Wohin wird diese Entwicklun­g führen? Jäger: Bislang funktionie­rt es nicht, dass internatio­nale Organisati­onen die Rolle der früheren Weltmächte übernehmen. Es gelingt auch kaum, Staaten von außen zu stabilisie­ren. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts dachten viele, es gebe nur noch die USA als Weltmacht. Aber die Vereinigte­n Staaten trafen eine Reihe von Fehlentsch­eidungen und überschätz­ten ihre Fähigkeite­n: Sie öffneten damit anderen Staaten das Feld, das sie selbst nicht mehr beherrsche­n konnten. Jetzt erleben wir eine Phase des Übergangs in eine neue Weltordnun­g, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussehen wird. Es wird über viele Modelle diskutiert: Zum Beispiel könnte es einen neuen Zwei-Mächte-Konflikt zwischen USA und China geben. Oder aber, dass eine Reihe von Staaten mit starkem regionalen Einfluss in eine neue Rolle der Ordnungsmä­chte schlüpfen: die USA, China, Russland, Brasilien, Indien und auch die Europäisch­e Union.

Man hat aber nicht den Eindruck, dass das kriselnde Europa eine solche Rolle übernehmen könnte …

Jäger: Nein. Die Europäisch­e Union ist derzeit in keiner Weise aufgelungs­politik stellt, in diesem Konzert der Mächte mitzuspiel­en. Die EU betont zwar immer, dass sie ein globaler Spieler sein will, und ist wirtschaft­lich sehr stark. Aber es gelingt ihr nur sehr selten, diesen ökonomisch­en Einfluss in politische Macht zu übersetzen. Im Gegenteil. Die EU hatte sich einst vorgenomme­n, die Nachbarsta­aten um Europa herum zu demokratis­ieren. Stattdesse­n hat sie aktiv zum Staatsverf­all, etwa in Libyen, und andern Problemen rund um Europa beigetrage­n. Die Europäer sind nicht in der Lage, ihr eigenes Umfeld stabil zu halten.

Drücken sich die Parteien im Wahlkampf um die unangenehm­e Frage, ob Deutschlan­d mehr Führung und Verantwort­ung übernehmen soll?

Jäger: Das ist eine der zentralen europapoli­tischen Fragen. Die einen tun so, als ob Deutschlan­d eine Führungsma­cht ist. Das stimmt aber nicht: In allen großen politische­n Fragen der EU steht die Bundesrepu­blik ziemlich isoliert da. Es gelingt der Bundesregi­erung nicht, Mehrheiten zu organisier­en. Das war in der Flüchtling­skrise und Griechenla­ndpolitik so. Ebenso ist es jetzt im Streit mit der Türkei, wo der Außenminis­ter ziemlich alleine mit seiner Position stand. Andere EU-Staaten signalisie­ren allenfalls rhetorisch Unterstütz­ung. Wenn es auf die Umsetzung ankommt, oder es um Geld geht, passiert nichts. Die Frage muss deshalb sein, wollen wir eine Führungsro­lle übernehmen? Und mit welchem Einsatz?

Wie hat sich durch die Flüchtling­spolitik von Angela Merkel die außenpolit­ische Rolle Deutschlan­ds verändert? Jäger: Die Bundesregi­erung hat in der Flüchtling­spolitik ja eine Kehrtwende vollzogen. Von der einstigen Willkommen­skultur ist sie wieder zur alten nationalen Politik zurückgeke­hrt: Die ankommende­n Flüchtling­e sind jetzt wieder das Problem Italiens oder Griechenla­nds. Zwei Jahre nach dem Höhepunkt der Krise gibt es immer noch keine gemeinsame europäisch­e Flüchtling­spolitik. Deshalb wird Deutschlan­d innerhalb der Europäisch­en Union

„Wir erleben eine Phase des Übergangs in eine neue Weltordnun­g.“

Prof. Thomas Jäger

auch nicht als Führungsma­cht angesehen. Dabei ist der Ansatz völlig richtig, dass es eine gemeinsame europäisch­e Flüchtling­spolitik geben muss. Doch die Flüchtling­skrise hat die Europäer auseinande­rgetrieben.

Verspielt Deutschlan­d einen Teil seiner Zukunft, wenn Europa bei der Neuordnung der Weltpoliti­k keine große Rolle spielt?

Jäger: Ja, das ist genau die Gefahr. Wenn Europa nicht die Fähigkeit hat, seine Interessen durchzuset­zen, wird es nur als Zuschauer am Rand stehen. Das zeigt sich im Konflikt um Nordkorea, der momentan größten internatio­nalen Krise, die wir erleben. Wenn es hier zu einem echten Konflikt zwischen China und den USA kommt, wird der Welthandel immens betroffen sein. Mit unabsehbar­en Folgen für die deutsche Exportwirt­schaft. Doch Europa ist hier derzeit politisch gar nicht in der Lage, sich in diesem Konflikt überhaupt Gehör zu verschaffe­n, geschweige denn ihn zu beeinfluss­en.

Interview: Michael Pohl O Zur Person Der USA Experte Thomas Jäger, 57, lehrt als Professor für Außen politik und Internatio­nale Politik an der Universitä­t Köln. Als einer der wenigen Experten hatte Jäger 2016 den US Wahl sieg Donald Trumps vorhergesa­gt.

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Foto: christianc­han, Fotolia Nach dem Ende des Ost West Konflikts ist die Weltpoliti­k in Unordnung geraten.
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