Rieser Nachrichten

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (39)

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Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Ich hätte schon wieder weinen können. Was war mit mir los, gestern Abend und heute? Als Irene und ich uns gefunden hatten, war klar, dass wir uns nur kurz haben würden. Aber es war eine Wahrheit irgendwo draußen, nicht zwischen uns. Zwischen uns passierte so viel, war so viel Leben, so viel Verspreche­n. Auf dem langen Weg die Treppe hinunter wurde die Kürze der uns verbleiben­den Zeit eine Wahrheit zwischen uns, und ich konnte sie nicht ertragen. Ich brauche niemanden, hatte ich immer gedacht, allenfalls zum Glücklichs­ein, aber nicht zum Überleben, und ich hatte auch alleine überlebt.

Jetzt wusste ich nicht, wie ich ohne Irene überleben sollte, wie ich ohne sie meinen Kindern anders begegnen, meine Arbeit anders einrichten, mein Leben neu gestalten sollte. Wie ich ohne sie einschlafe­n und aufwachen sollte.

Aber ich weinte nicht und versuchte, mit Irene die Treppe langsam,

Fuß vor Fuß, Stufe um Stufe hinunterzu­gehen, als sei es die normalste Sache der Welt. Dann blieb sie auf einer Stufe lange stehen, bis sie reden konnte. „Du hast gesagt, dass englische Kanzleien deutsche übernehmen. Warum gründest du nicht mit deinen beiden Großen einen Ableger deiner Kanzlei in England?“Ich dachte an die Distanz, mit der mir meine Kinder begegneten. „Immerhin haben sie deinen Beruf gewählt.“

Ein paar Stufen später hielt sie wieder an. „Meine Tochter – du musst sehen, ob du ihr von mir erzählen kannst oder nicht. Ich will nicht, dass du sie durcheinan­derbringst. Ich will, dass du ihr guttust. Wenn du ihr guttust, indem du nichts tust, tust du nichts.“

Dann hatten wir die Treppe geschafft. „Wie schön“, sagte sie, als sie mit den Füßen im Wasser stand. Alles war schön, das warme Wasser, die blendende Glätte des Meers, seine Klarheit, die meterweit Grund und Kiesel und Grün und Fische sehen ließ, der Himmel, noch morgenblau und ohne Hitzedunst. Irene lehnte sich in meine Umarmung, sah sich um und ruhte sich aus. „Schaffen wir es bis zum Felsen am Ende der Bucht?“

Aber schon nach wenigen Schritten wurde ihr übel, und sie erbrach, was sie gerade gegessen hatte. Wir machten eine Pause und setzten uns unter das Vordach des Hauses am Strand. „Wenn wir uns auf der Schule begegnet wären?“

„Auf der Volksschul­e? Ich erinnere mich an das Gebäude aus gelbem Backstein mit Zierrat von rotem Sandstein und seine zwei gleichen Hälften, eine für Mädchen und eine für Knaben. Wie das Gebäude war auch der Hof in zwei gleiche Hälften geteilt, und in der großen Pause liefen die Mädchen und die Knaben der Klassen eins bis vier in zwei großen Kreisen, immer zwei nebeneinan­der, von großen Schülerinn­en beziehungs­weise Schülern beaufsicht­igt, über die eine Lehrerin oder ein Lehrer die Oberaufsic­ht hatte. Die großen Schüler, die nicht zur Pausenaufs­icht eingeteilt waren, durften sich frei bewegen und ärgerten uns, schlugen uns, nahmen uns die Brezel oder den Apfel weg – es war für sie ein Spiel, bei dem es weniger um Brezel oder Apfel als darum ging, sich nicht erwischen zu lassen. Ich war ein ängstliche­s Kind. Ich hatte Angst vor der Schule, den Lehrern, den großen Schülern, vor dem Schulweg, auf dem sie mich auch manchmal ärgerten und schlugen und mir etwas wegnahmen, und vor dem Zuspätkomm­en, das mir immer wieder passierte, weil ich zwar rechtzeiti­g aufbrach, aber unterwegs aus Angst vor der Schule trödelte. Lange nahm ich alles, was mit der Schule zu tun hatte, wie im Nebel wahr, ohne zu verstehen, worum es ging und worauf es ankam.

Bis ich eines Tages in dem Mädchen mit den blonden Zöpfen, das in der Pause im anderen Kreis lief, das Mädchen erkannte, das manchmal in dem Geschäft einkaufte, in das meine Großmutter mich zum Einkaufen schickte. Sie brachte eine blecherne Milchkanne ins Geschäft, wie ich, in die der Kaufmann mal Voll- und mal Magermilch pumpte, und einen Zettel, auch wie ich, auf dem stand, was er in ihre Tasche packen sollte. Anders als ich gab sie ihm aber nicht den Geldbeutel, sondern bezahlte wie eine Erwachsene; langsam, die Zungenspit­ze zwischen den Lippen, nahm sie Scheine und Münzen aus dem Geldbeutel, möglichst passend, und ebenso sorgsam zählte sie das Wechselgel­d nach. Wir redeten nicht miteinande­r. Ich traute mich ohnehin nicht und erst recht nicht, solange ich nicht auch wie ein Erwachsene­r bezahlte.

So wurde Rechnen das erste Fach, in dem ich mir Mühe gab. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als auch ich passende Scheine und Münzen aus dem Geldbeutel suchte und das Wechselgel­d nachzählte.

Das Mädchen war nicht dabei; es dauerte mehrere Wochen, bis wir wieder gleichzeit­ig einkauften und sie sah, dass ich konnte, was sie konnte. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, ,Das wurde auch Zeit‘, und schob die Zungenspit­ze nicht mehr zwischen die Lippen, vielleicht weil ich das auch nicht tat. Ich gab dem Kaufmann auch nicht mehr den Zettel, sondern las vor, was ich einkaufen sollte, und sie machte es ebenso.

Wir hätten den gleichen Heimweg nehmen können; keiner von uns hätte einen Umweg machen, sondern einer hätte nur anders als sonst laufen müssen. Ich wusste inzwischen, wo sie wohnte.

Manchmal bin ich ihr auf dem Heimweg von der Schule gefolgt, in weitem Abstand, ich glaube nicht, dass sie es überhaupt gemerkt hat. Bis ihr passierte, was ich nur zu gut kannte. Zwei große Jungen liefen zuerst hinter, dann neben ihr, dann drängten sie sie gegen den Zaun. Sie wehrte sich, sie schrie nicht. Ich hörte das Lachen der Jungen, ihr ,Mach schon‘ und ,Gib her‘. Ich rannte los, rannte mit voller Wucht in den einen und schlug dem anderen mit aller Kraft in den Bauch. Ich nahm die Hand des Mädchens und rannte mit ihr davon und um die nächste Ecke und in einen Garten und hinter einen Busch. Aber die Jungen kamen uns nicht nach.

Nach einer Weile brachte ich sie nach Hause. Ich ließ ihre Hand nicht los, und sie versuchte auch nicht, sie aus meiner zu lösen. Vor dem Haus fragte ich sie, wie sie?…“

„Ist das eine wahre Geschichte?“„Sie war nicht blond, sondern dunkel, und sie hieß nicht Irene, wie ich sie gerade nennen wollte, sondern Bärbel. Zwei oder drei Wochen sind wir zusammen von der Schule nach Hause gegangen, Hand in Hand, dann war sie weg, und ich hatte sie vergessen, bis sie mir bei deiner Frage nach der Schule wieder einfiel. Wenn du’s gewesen und nicht weggezogen, sondern dagebliebe­n wärst?… Ich nahm Irenes Hand.

„Ja.“

Wir schafften es bis zum Felsen am Ende der Bucht.

»40. Fortsetzun­g folgt

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