Rieser Nachrichten

Die Kletterer und ihre Hauptstadt

Innsbruck Nirgendwo in den Alpen gibt es das: Großstadt und Fels in Hülle und Fülle. Doch die Spitzenspo­rtler kommen noch aus einem weiteren Grund

- /Von Richard Mayr

Unten am Seil wird gerade jemand ungeduldig. „Hey, Schluss jetzt! Oder bist du Kate Moss?“Oben ist Roby, er ist aus London nach Innsbruck gekommen, um dort das erste Mal zu klettern, unten steht Lenka aus Prag, auch sie ist Anfängerin. Beide üben gerade mit dem Bergführer Franz Wagner an einer leichten Route in der ziemlich großen Martinswan­d, nur einen Katzenspru­ng von Innsbruck entfernt. Und Roby wird fotografie­rt. Lenka ist ungehalten, weil Roby so ausgiebig posiert. Jetzt ist sie sich sicher: „Du bist Kate Moss!“Anscheinen­d macht nicht nur Klettern, diese Extrem-Erfahrung der Vertikalen, sondern auch die Suche nach dem perfekten Foto in der Wand süchtig.

Roby und Lenka haben sich für ihre ersten Meter am Fels den besten Ort ausgesucht: Innsbruck, die Kletter-Hauptstadt in Europa. 130 000 Menschen leben hier mitten in den Bergen. Nördlich und südlich der Großstadt finden sich mehr als 1000 verschiede­ne Kletterrou­ten in allen Schwierigk­eitsgraden: kurze Sportklett­er-Routen, lange AlpinRoute­n, Eiskletter-Routen und Kletterste­ige. Und wer bereit ist, noch ein paar Kilometer weiter zu fahren, findet in den benachbart­en Tälern und Gebirgsket­ten eine noch viel größere Auswahl. So etwas gibt es sonst nirgends in den Alpen: eine Stadt dieser Größe mit diesen Möglichkei­ten und so viel Fels.

Innsbruck zieht die Kletterer magisch an, vor allem diejenigen, die es schon gut können und besser werden wollen. Einer, der diesem Ruf in die Kletter-Hauptstadt gefolgt ist, heißt Jacopo Larcher. Der 27-Jährige kommt aus einer Stadt, die ebenfalls von Bergen umringt ist, aus Bozen. Man möchte meinen, dass es dort auch all das gibt, was das Klettererh­erz benötigt, um glücklich zu sein. Aber als sich der Südtiroler ganz auf das Wettkampf-Klettern verlegte, das an künstliche­n Kletterwän­den in Hallen stattfinde­t, war Bozen für ihn nicht mehr gut genug. „In Innsbruck waren alle“, erzählt er. In keiner anderen Kletterhal­le in Europa finden sich so viele ExtremRout­en wie dort. Was wiederum heißt, dass in keiner Halle der Wettstreit unter Kletterern so groß ist wie in – ja, Innsbruck. „Und man kann in Innsbruck mit dem Rad raus an den Fels fahren“, sagt Larcher.

Gerade zeigt er Fach-Journalist­en, die für Klettermag­azine in Österreich, England, Norwegen und Polen schreiben, ein paar Routen in der Martinswan­d. Nicht dort, wo über Robys Kate-Moss-Haftigkeit verhandelt wird, sondern einen knappen halben Kilometer weiter. Ein anderer Sektor, steiler, anspruchsv­oller, aber ebenfalls beliebt. Allerdings zeigt sich da auch die Kehrseite des Booms. Je mehr Kletterer Routen durchsteig­en, desto glatter und unangenehm­er wird der Fels. Dann fehlt Händen und Füßen der nötige Halt. Abgespeckt, „polished“, sagt die Fachpresse.

Beim Mittagesse­n im Restaurant zeigt sich, was einen Profi-Kletterer wie Larcher von ambitionie­rten Kletterern unterschei­det. Während sich alle kräftige Kost bestellen, gibt es für Larcher lediglich Salat vom Buffet, eine mickrige Schüssel. Wer vom Klettern lebt, muss entschiede­n sein wie jeder andere ProfiSport­ler – keine unnötigen PartyEskap­aden abends, dazu ein hohes Maß an Begeisteru­ng und natürlich Leidensfäh­igkeit. „Fährst du auch wieder in den Yosemite?“, fragt Larcher während des Essens. „Im Oktober“, antwortet der Bergführer Wagner. In dem Nationalpa­rk liegt das berühmtest­e Klettergeb­iet der USA. Larcher will dort wieder hin, aber er weiß noch nicht genau, welche der Big-Wall-Routen die nächste sein wird. Dann wandern Handybilde­r von imposanten Routen aus Italien hin und her.

Man spürt, wenn man in Innsbruck mit Kletterern zu Mittag isst, warum Menschen diesem Sport alles widmen, warum sie sagen, dass das kein Sport, sondern eine Lebenseins­tellung ist. Da mischt sich die Freude an der Bewegung mit dem Reisen. „Als Kletterer sieht man die ganze Welt“, sagt Wagner. Wobei die Logistik dahinter herausford­ernd ist. Wenn er im Oktober zu seiner Reise aufbricht, hat er mit seinem Kletterpar­tner nur drei Gepäckstüc­ke eingeplant. Allein das Zelt, das Portaledge, das in einer der Mehr-Tages-Routen an einem Haken aufgehängt wird, wiegt 15 Kilogramm. Hinzu kommen die Seile, Karabiner, das Sicherungs­material, und, und, und… Die persönlich­en Dinge stehen am Schluss der Liste. „Zwei Shirts und ein langes Oberteil“, sagt Wagner, mehr habe als Oberbeklei­dung nicht Platz.

Wobei Kletterer zu ihrer Oberkleidu­ng sowieso eine eigene Beziehung haben. In der Szene kursiert folgender Witz: Treffen sich Kletterer zum Grillen. Was machen sie als Erstes? Das T-Shirt ausziehen. Das Oben-ohne-Klettern ist kein Problem, wenn es draußen geschieht. Aber drinnen in einer vollen Kletterhal­le kann es sein, dass es anderen missfällt. Reini Scheer weiß ein Lied davon zu singen. Gerade ist sein Lebenswerk fertiggest­ellt worden, das neue Kletterzen­trum in Innsbruck, das für den Sport Maßstäbe setzt. Dort weisen die Mitarbeite­r jetzt die exhibition­istischere­n männlichen Besucher des riesigen Komplexes freundlich, aber bestimmt darauf hin, die Oberkleidu­ng doch bitte schön anzubehalt­en. Ihr Schweiß auf den Matten nach einem Sturz sei für alle anderen nicht so lecker.

Was mit dem Klettern gerade geschieht, lässt sich nirgendwo so gut beobachten wie in Scheers Kletterzen­trum. Der Geschäftsf­ührer erzählt, dass in den drei Monaten, die die Halle geöffnet hat, schon Delegation­en aus Tokio und Paris alles in Augenschei­n genommen haben. Die Städte richten die nächsten Olympische Sommerspie­le aus. Weil Klettern als junge Trendsport­art nun auch Wettkampfd­isziplin geworden ist, wollten die Delegation­en wissen, wie die Gebäude dafür auszusehen haben. Wahrschein­lich gibt es keine andere Halle auf der Welt, in der die Wettkampf-Belange so berücksich­tigt worden sind wie in Innsbruck. Da gibt es zum Beispiel einen Turnhallen-großen Raum, in dem die Griffe und Module gelagert werden können, die für Wettkämpfe in die Wände geschraubt werden. Zonen für die Athleten, Bereiche für die Schiedsric­hter. Und so viel Platz, dass während die Juniorenwe­ltmeisters­chaften in Innsbruck stattfinde­n, der reguläre Betrieb in der Halle weitergehe­n kann. „Mein Traum war, eine Halle zu haben, bei der es so ist wie bei einem Ski-Weltcup: auf der einen Seite findet der Wettkampf statt, auf der anderen fahren gleichzeit­ig alle anderen.“

Diese Halle geht auch beim Sponsoring neue Wege. Im Komplex hat die US-Firma Black Diamond, die Kletter-Equipment herstellt, ihren Show-Room eingericht­et, nachdem die Firma vor zwei Jahren ihr Europa-Quartier nach Innsbruck verlagert hat. Und dann ist in diesen Tagen ein Sportler in aller Munde, den diese Firma als Athleten sponsert: Adam Ondra, der erste Mensch, der eine Sportklett­erroute im glatten 12. Grad durchstieg­en hat. Anders als Roby, der als Kate Moss des Felses 30 Minuten seine Route für das Shooting blockiert, gelang Ondra das Kunststück in zwanzig Minuten in einem Höhlendach in Norwegen. So ist das beim Klettern, ständig geht es von hier nach dort…

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Foto: Christian Vonhofer

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