Nach der Wahl
Wochenlang wurde unser Volk ermahnt, die Stimmabgabe mit staatsbürgerlichem Bewusstsein zu vollziehen. Aber erst heute, am Tag nach der Wahl, rührt sich in manchem wahlberechtigten Kopf ein Anflug staatsbürgerlicher Nachdenklichkeit.
Angesichts des Wahlergebnisses wurmt den Unzufriedenen das Eingeständnis, dass sein Kreuzchen in einer anderen Spalte mehr zur Wirkung gekommen wäre. Den Nichtwähler quält plötzlich sein staatsbürgerliches Gewissen, weil die Entscheidung an den Urnen auf seine Vernunft verzichten musste. Wer mit seiner Stimme der erfolgreichsten Partei zum Triumph verholfen hat, spürt heute hinter sich nicht nur eine hochprozentige Mehrheit, sondern in sich auch die staatsbürgerliche Verpflichtung, mit hochprozentigen Getränken den Sieg zu feiern.
Innerlich zerrissen fühlt sich der Spontanwähler, der sein Votum vom augenblicklichen Gefühl steuern ließ. Gestern, so überlegt er, bin ich mit dem falschen Bein aufgestanden. Heute würde ich mein Kreuz an eine ganz andere Stelle setzen. Mancher sehr junge Wähler wird am heutigen Montag bei der Beobachtung jubelnder Wahlsieger von einer eigenen politischen Laufbahn träumen wie Alexej Wronski, der Held des Romans „Anna Karenina“. Von ihm sagt Tolstoi, der Verfasser: „Die Wahlen selbst hatten so verlockend auf ihn gewirkt, dass er sich vornahm, wenn er sich innerhalb der nächsten drei Jahre verheiratet haben würde, selbst zu kandidieren.“