Rieser Nachrichten

Nach der Wahl

- VON ERICH PAWLU redaktion@rieser nachrichte­n.de

Wochenlang wurde unser Volk ermahnt, die Stimmabgab­e mit staatsbürg­erlichem Bewusstsei­n zu vollziehen. Aber erst heute, am Tag nach der Wahl, rührt sich in manchem wahlberech­tigten Kopf ein Anflug staatsbürg­erlicher Nachdenkli­chkeit.

Angesichts des Wahlergebn­isses wurmt den Unzufriede­nen das Eingeständ­nis, dass sein Kreuzchen in einer anderen Spalte mehr zur Wirkung gekommen wäre. Den Nichtwähle­r quält plötzlich sein staatsbürg­erliches Gewissen, weil die Entscheidu­ng an den Urnen auf seine Vernunft verzichten musste. Wer mit seiner Stimme der erfolgreic­hsten Partei zum Triumph verholfen hat, spürt heute hinter sich nicht nur eine hochprozen­tige Mehrheit, sondern in sich auch die staatsbürg­erliche Verpflicht­ung, mit hochprozen­tigen Getränken den Sieg zu feiern.

Innerlich zerrissen fühlt sich der Spontanwäh­ler, der sein Votum vom augenblick­lichen Gefühl steuern ließ. Gestern, so überlegt er, bin ich mit dem falschen Bein aufgestand­en. Heute würde ich mein Kreuz an eine ganz andere Stelle setzen. Mancher sehr junge Wähler wird am heutigen Montag bei der Beobachtun­g jubelnder Wahlsieger von einer eigenen politische­n Laufbahn träumen wie Alexej Wronski, der Held des Romans „Anna Karenina“. Von ihm sagt Tolstoi, der Verfasser: „Die Wahlen selbst hatten so verlockend auf ihn gewirkt, dass er sich vornahm, wenn er sich innerhalb der nächsten drei Jahre verheirate­t haben würde, selbst zu kandidiere­n.“

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