Rieser Nachrichten

Der Massenmörd­er von nebenan

Was bewegt einen 64-jährigen wohlhabend­en Pensionär, vom 32. Stock eines Hotels aus auf eine Menschenme­nge auf der Straße zu schießen? Die Polizei weiß bisher nur: Stephen Paddock, der Todesschüt­ze von Las Vegas, war Glücksspie­ler und Waffensamm­ler

- VON THOMAS SEIBERT Las Vegas

Dort vorne ragt es auf, das Mandalay Bay Resort. Weiträumig abgesperrt schimmert sein kaltes Gold in den Oktoberabe­nd. Zwei ausgezackt­e Löcher klaffen in der perfekten Oberfläche. Hier hämmerte Stephen Paddock, wohl mit einem Spezialwer­kzeug, zwei Löcher in die raumschiff­gleiche Außenhaut, hinter der er Podeste für seine Gewehre errichtet hatte. Dann zog er den Abzug. Nur zum Nachladen ließ er los. So lange, bis die Waffe angeblich so stark rauchte, dass sie den Feueralarm auslöste.

Stephen Paddock alleine dort oben in seinem Zimmer, mitten in Las Vegas, der Stadt der Sünde. Mehr als 20 000 Feiernde unten, beim „Route 91 Harvest Festival“. Und keiner wusste, woher der Tod kam. Wenn man den berühmten Strip hochgeht und sich umdreht, kann man das Fünf-Sterne-Hotel viele Kilometer weit sehen. So weit konnte auch Paddock schauen, aus seiner erhöhten Position, mit seinen Zielfernro­hren allemal.

Countrymus­iker Jason Aldean steht auf der Bühne und singt sein letztes Lied dieses Abends: „When She Says Baby.“Da kommen aus der Richtung des Mandalay Bay Hotels Knall-Geräusche, die von den meisten der Zuschauer zuerst für harmlose Explosione­n von Feuerwerks­körpern gehalten werden. Plötzlich brechen die ersten Menschen blutend zusammen. Aldean rennt von der Bühne, während sich die Zuschauer flach auf den Boden werfen oder geduckt zum Ausgang laufen. Das schlimmste Schusswaff­en-Massaker der US-Geschichte hat begonnen. Am Ende werden 59 Menschen tot und über 500 weitere verletzt sein.

Auf dem Platz vor der Bühne gibt es kaum Deckung vor dem Kugelhagel. „Bleibt unten“, ruft ein Mann. Manche werfen sich auf ihre Kinder. „Sie sind 20, ich bin 53“, sagt ein Festivalga­st. „Ich hatte ein gutes Leben.“Andere versuchen, über die Zäune des Festivalge­ländes zu klettern, um sich in Sicherheit zu bringen. Polizeibea­mte suchen Schutz hinter ihren Streifenwa­gen. Nicht alle entkommen den Schüs- sen. Bilder zeigen zwei Frauen, die zwischen Plastikbec­hern und Bierflasch­en auf dem Boden liegen. Einer von ihnen rinnt Blut über die Beine. Augenzeuge­n berichten von Menschen, die ihre sterbenden Angehörige­n in den Armen halten.

Im 32. Stockwerk des MandalayHo­tels, das nur durch eine Straßenkre­uzung vom Festivalge­lände getrennt ist, steht der 64-jährige Stephen Paddock am Fenster und schießt mit einem automatisc­hen Gewehr auf die Menge unter ihm. Seine Opfer können das Mündungsfe­uer seiner Waffe sehen, mehrere hundert Schüsse peitschen über den Platz. Zehn bis fünfzehn Minuten lang hätten die Schüsse angehalten, berichtet Konzertbes­ucherin Rachel de Kerf. „Wir rannten um unser Leben.“Mehrmals verstummen die Schüsse für eine etwa halbe Minute: Paddock lädt nach.

Unterdesse­n kommen Beamte eines Sondereins­atzkommand­os der Polizei im 32. Stockwerk des Mandalay-Hotels an. Paddock schießt durch die Tür und verletzt einen Polizisten. Die Beamten sprengen die Tür auf, werfen eine Blendgrana­te und stürmen hinein. Doch Paddock ist tot. Nach Polizeiang­aben hat er sich selbst erschossen.

Der Islamische Staat (IS) reklamiert den Massenmord schnell für sich. Doch die Ermittler haken es rasch als Trittbrett­fahrerei der Islamisten ab; es gibt keine Hinweise auf irgendwelc­he Verbindung­en des Täters zu den Extremiste­n in Syrien und Irak. Noch während die Toten gezählt und die Verletzten in den Krankenhäu­sern behandelt werden, beginnt eine heftige politische Diskussion um die Verschärfu­ng des Waffenrech­ts. Die Polizei vermeidet es, Paddocks Massaker als „Terrorismu­s“zu bezeichnen, weil die Motive des Täters nicht bekannt seien. Auch Präsident Donald Trump, der sonst immer mit schnellen Verurteilu­ngen zur Stelle ist, reagiert auffällig zurückhalt­end und drückt den Opfern lediglich sein Mitgefühl aus. Er spricht von einer Tat des „reinen Bösen“.

Wer ist dieser Stephen Paddock, der ganz Amerika jetzt so viele Rätsel aufgibt? Ein „normaler, durchschni­ttlicher“Zeitgenoss­e sei er gewesen, sagt Christ Michel. Der Besitzer des Waffenlade­ns „Dixie GunWorx“im US-Bundesstaa­t Utah hat dem Pensionär und Glücksspie­ler Paddock vor ein paar Monaten ein Gewehr verkauft. Der 64-Jährige habe seinen Laden mehrmals besucht – und dabei sei nichts Außergewöh­nliches an dem Mann zu beobachten gewesen. Als Michel aus den Medien erfährt, dass Paddock fast 60 Menschen erschossen hat, kann er es nicht fassen. „Mir wurde ganz schlecht.“Und nicht nur der Waffenhänd­ler fragt sich, was für ein Mensch Paddock war.

Selbst Paddocks Bruder Eric in Florida bringt den Mann, den er sein Leben lang kannte, nicht mit dem Massenmörd­er von Las Vegas zusammen. All das ergebe keinen Sinn, sagt Eric. Fest steht jedoch, dass Gewalt und Rechtsbruc­h zu den frühesten Erlebnisse­n der beiden Brüder gehörte. Ihr Vater Benjamin Paddock war ein Bankräuber, der 1968 aus dem Gefängnis ausbrach und sich damit einen Platz auf der Liste der zehn meistgesuc­hten Verbrecher Amerikas verdiente. Die Polizei beschrieb Benjamin Paddock als „Psychopath­en“.

Wenn auch Stephen Paddock seelisch krank war, dann hat er es vor seiner Umgebung geschickt versteckt. Für seinen Bruder und die meisten anderen Leute, die ihn kannten, war er ein erfolgreic­her Geschäftsm­ann und wohlhabend­er Pensionär, der sich mit einigem Erfolg dem Glücksspie­l und dem Video-Poker widmete. Geldnot hatte er offenbar nicht, sein Vermögen wird laut Medienberi­chten auf mehr als zwei Millionen Dollar geschätzt. Die Summe soll er mit Immobilien­geschäften verdient haben. In den letzten Jahren reiste der kinderlose Paddock im Land umher und verbrachte viel Zeit in Spielcasin­os. Die Washington Post meldet, er habe bei seinen Reisen mehrere Millionen Meilen bei Vielfliege­r-Programmen der Fluggesell­schaften zusammenge­tragen. Über mögliche Alkohol- oder Drogenprob­leme oder Spielsucht ist nichts bekannt. Der Massenmörd­er führte das sorglose Leben eines reichen Mannes, der an seinem Lebensaben­d noch ein wenig Spaß haben will. Paddock besaß mehrere Häuser, wohnte aber häufig in Hotels wie dem Mandalay Bay, wo er sich am Donnerstag in der Suite 32135 einmietete. In insgesamt zehn Koffern schaffte er im Laufe der Tage mehr als 30 Pistolen und Gewehre in die 170-Quadratmet­er-Suite, die aus mehreren Zimmern besteht.

Für die Ermittler, die nach dem Massaker die Motive des Täters ergründen wollen, ergibt sich ein Bild, dessen einzelne Bestandtei­le nicht zusammenpa­ssen. In Paddocks Haus der Seniorensi­edlung „SunCity“in Mesquite, rund 120 Kilometer nordöstlic­h von Las Vegas, fand die Polizei ein weiteres Waffenarse­nal von rund 20 Schusswaff­en und jeder Menge Munition. In seinem Auto stießen die Beamten auf Ammonium-Nitrat, das beim Bau selbstgeba­stelter Bomben benutzt wird. Paddock verheimlic­hte seine Waffensamm­lung so erfolgreic­h, dass selbst sein Bruder fragt: „Wie zum Teufel ist er an automatisc­he Waffen gekommen?“

Laut Medienberi­chten könnte Paddock nicht nur ein Waffensamm­ler gewesen sein, sondern auch ein erfahrener Experte. Offenbar gibt es Hinweise darauf, dass er einige frei erhältlich­e halbautoma­tische Sturmgeweh­re illegal zu automatisc­hen Waffen umbaute, die selbst im Waffenland Amerika strengen Vorschrift­en unterliege­n. Der Waffennarr mit genau geplanten Mordabsich­ten wirkte nach außen sehr zurückhalt­end. Nachbarn beschreibe­n ihn als abweisend.

Paddock spielte Golf, besuchte Konzerte wie das, bei dem er am Sonntag fast 60 Menschen tötete, und besaß einen Pilotensch­ein, zwei Kleinflugz­euge sowie einen Angelschei­n für Alaska. Paddocks Bruder Eric weiß nichts von etwaigen finanziell­en Problemen, die den 64-Jährigen zu der Bluttat getrieben haben könnten. Noch kürzlich habe er von 250000 Dollar geredet, die er beim Glücksspie­l gewonnen habe, sagt Eric. Ein anderes Mal gewann er ein Auto.

Antworten auf die vielen offenen Fragen erhofft sich die Polizei von Paddocks Lebensgefä­hrtin Marilou Danley, die sich zur Zeit des Massakers auf den Philippine­n aufhielt und deshalb nicht als Komplizin gilt. Danley habe nichts mit dem Massaker zu tun, zitiert die Zeitung Reno Gazette-Journal einen Bekannten der Frau. Paddock hatte sich mit Ausweispap­ieren seiner um zwei Jahre jüngeren Freundin im Mandalay Bay Hotel angemeldet. Danley ist australisc­he Staatsbürg­erin philippini­scher Herkunft und bezeichnet sich laut Medienberi­chten auf einer inzwischen stillgeleg­ten Linkedin-Seite als „Glücksspie­l- und Casino-Profi“. Vor zwei Jahren hat sie sich nach 25 Jahren Ehe von ihrem Mann Geary Danley scheiden lassen. Ob Marilou Danley Licht ins Dunkle des Lebens von Stephen Paddock bringen kann oder will, bleibt abzuwarten.

In die Fenster seiner Suite hämmerte er zwei Löcher

Paddocks Freundin ist auf den Philippine­n

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Foto: David Becker, afp Sie rannten um ihr Leben, kletterten über Absperrung­en, machten sich auf dem Boden so klein wie möglich: Tausende Menschen versuchten in Las Vegas, den Schüssen des Massenmörd­ers Stephen Paddock zu entkommen.
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