Rieser Nachrichten

Charly will nicht in den Süden fliegen

Ein junger Kranich bleibt lieber bei seinen brandenbur­gischen Zieheltern

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Angermünde Der junge Kranich Charly will einfach nicht mit seinen Artgenosse­n nach Süden ziehen. Stattdesse­n stakst er mit einem stetigen Piepsen hinter Eberhard Henne her – egal wohin der 73-Jährige geht. Auch vor Besuchern, die das Anwesen des ehemaligen Brandenbur­ger Umweltmini­sters in Angermünde betreten, schreckt der Vogel nicht zurück. Charly beäugt Neuankömml­inge, um dann mit dem Schnabel an ihren Fingern zu zupfen.

Das Zuhause seiner Zieheltern liegt am Radweg Berlin–Usedom, er ist an Fremde gewöhnt. „Charly hat quasi immer Hunger“, sagt ExMinister Henne und läuft in die Küche, den stubenrein­en Vogel im Schlepptau. Mehlwürmer, Schaben, Heuhüpfer und Geflügelhe­rzen stehen auf dem Speiseplan. Mais, den Artgenosse­n wegen seines Energierei­chtums schätzen, findet der Jungvogel hingegen uninteress­ant. Und die Rufe der Kraniche, die sich auf den Feldern um den Hof seiner Zieheltern sammeln, um spätestens Ende Oktober nach Süden zu ziehen, ängstigen ihn eher, als dass sie ihn interessie­ren. „Das ist sehr bedauerlic­h“, sagen Henne und seine Frau Beate Blahy, „wir hatten gehofft, ihn auswildern zu können, wenn er so weit ist.“Am 10. Mai war das etwa 200 Gramm schwere Kranichkük­en in ihre Obhut gekommen. Der pensionier­te Tierarzt und seine Frau haben schon mehrfach Kraniche großgezoge­n und wieder ausgewilde­rt.

Charly verlor seine Familie, als ein Quadfahrer durch das Brutgebiet raste. Die Altvögel nahmen Reißaus in die Luft, die Küken versteckte­n sich. Den Kranichjun­gen verschlug es an einen Müllplatz, wo ihn Naturschüt­zer fanden. „Ziel war natürlich, den Kranich auszuwilde­rn, damit er mit seinen Artgenosse­n gen Süden fliegen kann“, erzählt Blahy. Doch die Zeit bei den Elternvöge­ln war wohl zu kurz. „Deswegen ist er nun auf uns Menschen fixiert, er kennt quasi nichts anderes“, so die Biologin. Die größte europäisch­e Vogelart führe den Nachwuchs den ganzen Tag. Deswegen folge Charly seinen menschlich­en Eltern auf Schritt und Tritt. „Er bleibt nicht allein, einer von uns muss immer zu Hause sein, sonst fliegt er uns hinterher.“Noch wirkt der etwa drei Kilogramm schwere Charly mit seinem grauen Jungvogel-Federkleid unscheinba­r. Die prächtigen Schmuckfed­ern am Schwanz und das rote Kopfgefied­er wachsen ihm erst im nächsten Jahr. Dann kommt er auch in den Stimmwechs­el, das Piepsen verschwind­et. Geschlecht­sreife männliche Kraniche werden zunehmend aggressiv und verteidige­n ihr Revier. Bei Charly wäre dies das Grundstück von Henne und Blahy. Diese geben die Hoffnung nicht auf, ihn doch noch auswildern zu können.

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Foto: Patrick Pleul Die Naturschüt­zerin Beate Blahy mit ih rem „Ziehsohn“, dem jungen Kranich Charly.

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