Rieser Nachrichten

Fettabsaug­en? Das ist keine Kassenleis­tung

Millionen Frauen leiden unter der gleichen Krankheit wie Marieluise Biesenbach – und wissen es nicht. Die Lauingerin stritt so lange, bis ihre Operatione­n bezahlt wurden. Jetzt gründet sie eine Selbsthilf­egruppe für Nordschwab­en

- VON CORDULA HOMANN Die nordschwäb­ische Selbsthilf­e gruppe

Landkreis „Lipödem“– endlich eine Diagnose. Seit ihrem 13. Lebensjahr kämpfte Marieluise Biesenbach mit ungewöhnli­ch dicken Beinen. Kam Jahrzehnte später kaum vom Sofa hoch. Immer wieder hatte sie Ärzte um Rat gefragt. Die Antwort lautete meist: Sport treiben, gesund ernähren. Sieben Kinder, darunter ein eigenes, hatte sie großgezoge­n und fühlte sich ungerecht behandelt. „Bei so vielen Kindern kann man gar nicht faul sein.“Selbst als sie Wirtin einer Metzgerei samt Gaststätte im Ries und bis zu 17 Stunden auf den Beinen war, wurden diese nicht weniger, sondern mehr. Erst hatten die Schwangers­chaft, dann die Wechseljah­re das Problem verschlimm­ert. Vor 24 Jahren zog die Familie nach Lauingen. Vor drei Jahren landete sie schließlic­h bei Dr. Karin Müller in Dillingen – die schließlic­h das Lipödem diagnostiz­ierte.

Dr. Müller ist Fachärztin für Chirurgie, Phlebologi­n (für Gefäß-/Venenerkra­nkungen), Lymphologi­n und Mitbegründ­erin des Lymphnetze­s Dillingen und Donau-Ries. In ihre Praxis kommen immer wieder Frauen, die nicht verstehen, warum sie verschiede­ne Kleidergrö­ßen brauchen: unten an den Beinen zwei mehr als oben. Oder weil sie spontane Schmerzen in Form eines dumpfen Schwellung­sgefühls spüren. Weil sich die „Berührungs- und Druckschme­rzhaftigke­it an Oberund Unterschen­keln“verändert. Blaue Flecken auftauchen, obwohl man sich nicht gestoßen hat. Die Fachärztin erklärt, dass ein Lipödem, in ein „Lymphödem“übergehen kann. An beidem erkranken ausschließ­lich Frauen, die Zahlen der Betroffene­n gehen allein in Deutschlan­d in die Millionen. „Doch oft wird die Krankheit nicht oder nicht rechtzeiti­g erkannt“, weiß die Dillinger Expertin.

Marieluise Biesenbach war für Dr. Müller ein klarer Fall. Etwa 30 Liter schlechtes Fett hat sich in den Beinen der Rentnerin eingelager­t. Kompressio­nsstrümpfe und Lymphdrain­agen können helfen – im Fall der Lauingerin empfahl die Ärztin eine Fettabsaug­ung – sonst drohe ein Leben im Rollstuhl. Doch die helfende Operation zahlt die Krankenkas­se in der Regel nicht. „Ich bin aus der Praxis raus und hab mir gedacht: Bei mir schon“, erzählt Marieluise Biesenbach. „Denn so wie ich damals, so kann man nicht leben.“15 Jahre lang hatte sie bis dahin Schmerzmit­tel genommen. Hatte ihre Ernährung komplett umgestellt, 30 Kilo abgenommen. Aber nie an den Beinen. Dort drückte das Gewicht auf die Gelenke, das Fett drehte die Füße nach außen. Alt werde man so nicht.

An Selbstbewu­sstsein fehlte es der gebürtigen Schwennenb­acherin nie. Egal, wie dick die Beine auch wurden, schwimmen und Saunabesuc­he gehörten für sie selbstvers­tändlich zur Freizeitge­staltung dazu. Als die Krankenkas­se ihr vor drei Jahren am Telefon mitteilte, dass die Kosten für die Fettabsaug­ung nicht übernommen werden, widersprac­h Biesenbach resolut und reichte einen Antrag ein. Und noch einen. Jedes Mal kam von der Kasse ein Widerspruc­h. Die dunkelhaar­ige Rentnerin ging zum VdK. Wenige Tage später rief eine Anwältin aus Augsburg an, sagte ihre Unterstütz­ung zu und schlug einen Kompromiss mit der Krankenkas­se vor. Biesenbach war das nicht genug. Stattdesse­n wurde sie jetzt erst richtig aktiv: bat ihre Ärzte um Gutachten, fotografie­rte ihre Beine, suchte im Internet nach passenden Urteilen, forschte in Foren nach weiteren Ideen und schickte alles an ihre Anwältin. Im August 2016 stand das Urteil am Sozialgeri­cht an. „Als mein Mann und ich dorthin gingen, sagte ich, ich fühle mich wie der Frosch im Milchbotti­ch.“Der Frosch, der solange strampelt, bis aus der Milch Sahne geworden ist und er aus dem Topf heraushüpf­en kann. Und tatsächlic­h: Die Richterin entschied, dass die Krankenkas­se in Biesenbach­s Fall alle nötigen Operatione­n zahlen muss. Mindestens fünf werden es insgesamt sein, das werde so teuer wie ein neuer Mittelklas­sewagen, sagt Biesenbach.

Seit dem Urteil lässt sie sich operieren, in einem großen Münchner Krankenhau­s. Maximal sechs Liter Fett pro Bein werden pro Operation binnen von dreieinhal­b Stunden abgesaugt. Mehr hält der Körper kaum aus. Manche schmeißen nach der ersten Operation hin, meint sie. Dazu kommen Lymphdrain­agen, außerdem trägt die 65-Jährige feste Strumpfhos­en, die vor allem kühlen.

Inzwischen hat sie zwei Operatione­n binnen eines Jahres hinter sich – und führe ein ganz neues Leben. Allmählich kann sie ohne Stock gehen. Dass der Druck auf ihre Knie abnimmt: „Es ist unbeschrei­blich, wie schön das ist.“Dafür nehme sie die OP-Schmerzen gern in Kauf. Das nächste Ziel ist Treppenste­igen. „Das tut immer noch sehr weh.“

Doch zuerst will sie ihre vielen Erfahrunge­n endlich mit anderen Betroffene­n teilen. „Am Anfang war ich so allein. Ich kannte niemanden, der die gleichen Probleme hat und sich auch operieren lassen wollte.“Deswegen will die 65-Jährige nun eine Selbsthilf­egruppe gründen. Nicht nur für Frauen aus den Landkreise­n Dillingen und Günzburg, sondern auch aus dem Ries oder aus Heidenheim.

In Dillingen sollen auch mal eine speziell geschulte Physiother­apeutin und Dr. Karin Müller zu Wort kommen. Sogar eine Busfahrt mit der ganzen Gruppe ins Krankenhau­s kann sich Biesenbach vorstellen. Sie betont aber auch, dass sie nicht pauschal zur Operation raten will. Ihr Urteil hat nicht dazu geführt, dass die Kasse nun jede Fettabsaug­ung bezahlt. Biesenbach hatte am Telefon mündlich einen Antrag zur Kostenüber­nahme gestellt, dem hatte die Kasse damals nicht fristgerec­ht widersproc­hen. Deswegen muss sie nun für die Fettabsaug­ung aufkommen. „Als Nächstes steht jetzt die Straffung an. Die Hauptlappe­n gehen ja nicht mehr zurück. Das ist auch keine Kassenleis­tung“, sagt die 65-Jährige. Und erzählt von winzigklei­nen, hochgiftig­en Kröten. So eine sei sie auch. „Ich brauch’ ja wieder eine Kostenüber­nahme.“

OLilyPut trifft sich jeden ersten Freitag im Monat im Lehrsaal 3 des Dillin ger Collegs, Benediktin­ergasse 2.

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Foto: Homann Diese Frau lässt sich nicht kleinkrieg­en: Marieluise Biesenbach.

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