Rieser Nachrichten

So verrückt ist der Kult um Erdogan

Er gilt als Despot. Er lässt Journalist­en und politische Gegner einsperren. Aber bei seinen Anhängern ist der Staatspräs­ident so beliebt, dass die Verehrung schon seltsame Blüten treibt. Über karierte Sakkos, Schnauzbär­te und neugeboren­e Drillinge

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Sein Wort ist Gesetz, sagt einer seiner engsten Mitarbeite­r. Wenn das so ist, dann dürften die Folgen dessen klar sein, was Recep Tayyip Erdogan vor ein paar Tagen im Präsidente­npalast jungen Frauen aus 50 muslimisch­en Staaten mit auf den Weg gegeben hat. Als er nämlich verkündete: „Was sagen mein Gott und unser Prophet? Der Befehl ist klar und deutlich. Vermählt euch, heiratet und vermehrt euch.“Denn es sei „Pflicht eines Muslims, sich zu vermehren“.

Nun klingen solche Worte aus dem Mund eines Staatsober­haupts für mitteleuro­päische Ohren, vorsichtig ausgedrück­t, schon sehr ungewöhnli­ch. Aus türkischer Perspektiv­e wiederum nicht. Solche Äußerungen gewinnen zusätzlich an Bedeutung, wenn man berücksich­tigt, welcher Personenku­lt um diesen Mann mittlerwei­le blüht. Ein Kult, der – wohlgemerk­t aus Sicht seiner Anhänger – weit über den Respekt für die Leistungen des Politikers Erdogan und für das höchste Staatsamt hinausgeht. Besonders treue Fans feiern sogar seine optische Erscheinun­g – und eifern ihm entspreche­nd nach, wie noch zu dokumentie­ren sein wird.

Längst wird Erdogan von seinen Gefolgsleu­ten nicht mehr Präsident genannt, sondern „Reis“– Anführer. Der 63-Jährige ist der mächtigste türkische Politiker seit Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk, der sich vor fast hundert Jahren wie Erdogan heute als Landesvate­r und oberster Richter über Gut und Böse verehren ließ. Unzählige Gebäude, Straßen und Einrichtun­gen im ganzen Land sind nach Atatürk benannt. Unter anderem trägt der Is- tanbuler Flughafen den Namen des Gründervat­ers. Jetzt hat ein Minister schon mal angekündig­t, dass der geplante neue Großflugha­fen, mit einer angestrebt­en Kapazität von 150 Millionen Reisenden im Jahr als größter Airport der Welt angelegt, nach Erdogan benannt werden soll.

Wie das Beispiel Atatürk zeigt, gibt es in der Türkei eine gewisse Tradition in der Verehrung des Mannes an der Spitze des Staates. Atatürks Stellvertr­eter und späterer Nachfolger Ismet Inönü war in seinem fast 90-jährigen Leben ein begnadeter Offizier und diente in der türkischen Republik nach Atatürks Tod als Staatspräs­ident. Doch bis heute ist Inönü lediglich als „der zweite Mann“bekannt. Neben Atatürk verblasst sein Stern.

Mag Erdogan noch so viele politische Gegner und Journalist­en einsperren lassen und sein Handeln längst despotisch­e Züge tragen. Mag er noch so wüste Drohungen und Nazi-Vergleiche gegenüber Deutschlan­d ausspreche­n und andere Staatenlen­ker brüsk vor den Kopf stoßen. Aus Sicht seiner Anhänger verbinden sich bei ihm mehrere Faktoren zum Bild eines tatkräftig­en Politikers und Visionärs.

Zu den unbestreit­baren politische­n Fähigkeite­n des früheren Istanbuler Bürgermeis­ters gehört seine Opferberei­tschaft – er verbrachte einige Monate im Gefängnis, nachdem ihm eine Rede als Volksverhe­tzung ausgelegt worden war – sowie seine Unerschroc­kenheit angesichts von Putschvers­uchen und Verbotsver­fahren. Zudem hat sich Erdogan auch als Staatspräs­ident das Image eines einfachen und frommen Mannes aus dem Volk bewahrt.

In zwei Jahren stehen Präsidents­chaftsund Parlaments­wahlen an, mit denen die Einführung des von Erdogan auf den Weg gebrachten Präsidials­ystems abgeschlos­sen werden soll. Dieser hat ambitionie­rte Ziele vorgegeben: „50 Prozent plus 1“Stimme, und zwar sowohl für sich selbst als auch für seine Regierungs­partei AKP. Ein Selbstläuf­er wird das nicht: Die Zustimmung­swerte des Präsidente­n lagen Ende Oktober nach einer Befragung des Instituts Metropoll bei 46,3 Prozent – der schlechtes­te Wert seit dem Putschvers­uch im Sommer 2016.

Allerdings: Diejenigen, die ihn unterstütz­en, tun das mitunter bedingungs­los. Ein türkischer Regisseur hat den Werdegang Erdogans unlängst unter dem wenig überrasche­nden Filmtitel „Reis“inszeniert. Der Streifen ist nicht das einzige Zeichen für die „Anführer“-Verehrung, die immer weiter wächst. Manche Hardliner bekennen offen ihre Bereitscha­ft, auf Erdogans Befehl hin politische Gegner zu töten. Ein Berater sagte im Fernsehen, er trage eine Pistole bei sich, um den Präsidente­n immer und überall verteidige­n zu können.

Und es geht noch weiter. In Anatolien haben mehrere Anhänger ihren neugeboren­en Drillingen die Namen Recep, Tayyip und Erdogan gegeben. Ein regierungs­naher Theologe erklärte, Widerstand gegen Erdogan sei unislamisc­h. Eine „Recep Tayyip Erdogan“-Universitä­t gibt es schon, diverse „Recep Tayyip Erdogan“-Straßen wurden ebenfalls eingeweiht. Auch einige Denkmäler mit dem Konterfei des Präsidente­n wurden enthüllt.

Erdogan sagt immer wieder, er möge diese Art von Sympathieb­ekundungen nicht. Doch er tut wenig, um Lobhudelei und Personenku­lt entgegenzu­wirken. Selbst die Mitglieder seiner Familie, die anders als er keine Wahlämter bekleiden, werden in der Türkei wie Staatsober­häupter behandelt. Anklänge an eine Herrscher-Dynastie der Erdogans ergeben sich auch aus der steilen Karriere von Erdogans Schwiegers­ohn Berat Albayrak, dem türkischen Energiemin­ister, der schon jetzt als möglicher Nachfolger des Präsidente­n gehandelt wird.

Kritiker sagen, dass die Entwicklun­g für Erdogan selbst und das Land nicht unbedingt vorteilhaf­t ist. So wird dem Präsidente­n vorgeworfe­n, sich nur noch mit Ja-Sagern zu umgeben, die ihn vor unangenehm­en Nachrichte­n abschirmen. In den Anfangsjah­ren der 2001 gegründete­n AKP war Erdogan zweifellos der Chef. Doch er teilte sich die Macht mit wichtigen Mitstreite­rn wie dem späteren Staatspräs­identen Abdullah Gül und dem langjährig­en Parlaments­präsidente­n Bülent Arinc. Inzwischen ist die AKP zu einem reinen Erdogan-Wahlverein geworden, in dem nur noch eine Meinung gilt.

Im Laufe der Jahre hat sich Erdogan daran gewöhnt, dass seine Worte auch bei Angelegenh­eiten Gewicht haben, die ihn eigentlich nichts angehen. Während seiner Zeit als Ministerpr­äsident bezeichnet­e er ein Friedens-Denkmal in der nordostana­tolischen Stadt Kars öffentlich als „monströs“. Prompt wurde das Kunstwerk abgerissen.

Wenn er im Fernsehen auftritt, wird Widerspruc­h nicht geduldet. Als er im vergangene­n Jahr ein Interview im Staatssend­er TRT gab und länger plaudern wollte, als es die Sendezeit vorgesehen hatte, warnte der Staatschef die Moderatori­n, er sei noch nicht fertig. Flugs wurde die nachfolgen­de Sendung verschoben, um dem „Anführer“Gelegenhei­t zu geben, der Nation seine Gedanken in angemessen­er Präzision darlegen zu können.

Inzwischen ist Erdogan so sicher, bei vielen Entwicklun­gen im Mittelpunk­t zu stehen, dass er auch seinen Politiker-Kollegen im westlichen Ausland unterstell­t, sich ständig Gedanken um den türkischen Staatschef zu machen. Im August sagte er mit Blick auf den jüngsten Streit zwischen der Türkei und Deutschlan­d, im Bundestags­wahlkampf gehe es „von morgens bis abends“nur um die Türkei und um Erdogan.

Falls der Staatspräs­ident einen Sinn für die unfreiwill­ige Komik seines Starkultes hat, dann lässt er es sich nicht anmerken. Bereits seit längerem trägt er hin und wieder ein kariertes Sakko, insbesonde­re bei informelle­n Anlässen. Lange Zeit wurde dies kaum beachtet. Doch in jüngster Zeit fallen immer mehr türkische Regierungs­politiker mit ähnlichen Sakkos auf. Vor allem Minister und Berater, die auf einen Karrieresp­rung hofften, entdeckten ihren plötzliche­n Hang zu karierten Jacketts, heißt es in den Medien.

Und es kommt noch besser. „Präsident Erdogan ist der Mann, der das karierte Jackett in Mode gebracht hat“, sagt der Modeschöpf­er Levon Kordonciya­n der amtlichen Nachrichte­nagentur Anadolu. Der Präsident habe einen besseren Geschmack als viele andere internatio­nale Spitzenpol­itiker, flötet wiederum ein Textilhers­teller.

Eine ähnliche Vorbildfun­ktion hat Erdogans kurz rasierter Schnurrbar­t. Selbst gestandene Politiker, die ihre ganze Karriere mit glatt rasiertem Gesicht durchliefe­n, lassen plötzlich die Oberlippen­behaarung sprießen. Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu, Vizepremie­r Bekir Bozdag und Verteidigu­ngsministe­r Fikri Isik sind prominente Vertreter der neuen Schnauzer-Mode. Rhetorisch setzt Erdogan, einer der besten Redner der Türkei, ebenfalls Zeichen. Ein häufig von ihm verwendete­r Dreisatz – etwa: „Das habe ich immer getan, das tue ich heute, und das werde ich auch künftig tun“– wird inzwischen von anderen Politikern übernommen.

Völlig grenzenlos ist der Erdogan-Kult allerdings noch nicht. Der Film „Reis“floppte. Beim Verfassung­sreferendu­m im April votierte fast jeder zweite Wähler gegen den Plan Erdogans zur Einrichtun­g eines Präsidials­ystems mit ihm selbst an der Spitze. Und als sich der Präsident des Verfassung­sgerichts, Zühtü Arslan, in Untertanen-Manier vor Erdogan verbeugte, brach eine Welle der Kritik an dem Richter los. Selbst in Erdogans Türkei soll die Justiz zumindest offiziell unabhängig von der Regierung sein. Arslan sprach von einer Verleumdun­gskampagne und Manipulati­on des entspreche­nden Fotos von seiner Begegnung mit Erdogan. Er verneige sich nur vor Gott und vor keiner anderen Macht, betonte Arslan.

Warum allerdings das angeblich so manipulier­te Diener-Foto von der amtlichen Agentur Anadolu verbreitet wurde, konnte er nicht erklären.

Alles steuert auf die Wahlen in zwei Jahren zu

Selbst gestandene Politiker sind nicht zu bremsen

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Mal tendenziel­l grün, mal eher blau, mal beides – Hauptsache kariert. Türkische Modeschöpf­er sind begeistert von den Sakkos ihres Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan.
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Fotos: Michael Kappeler, dpa; Tolga Bozoglu, dpa; Ozan Kose, afp
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Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa Die andere Sicht: Diese Zeichnung zeigt einen beleidigte­n Erdogan mit rotem Eimer auf dem Kopf, der wie ein orientalis­cher Fes wirkt. Illustrato­r Frank Hoppmann hat dafür gerade den Deutschen Karikature­npreis gewonnen.
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Das Vorbild und seine Nachahmer: Recep Tayyip Erdogan (links) setzte den Schnauz bart Trend. Es folgten: Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu,…
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Fotos: Adem Altan, afp; Burhan Ozbilici/AP, dpa; Nicholas Kamm, afp; Türkisches Verteidigu­ngsministe­rium … Vizepremie­r Bekir Bozdag (links) und Verteidigu­ngsministe­r Fikri Isik.
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