Rieser Nachrichten

Gestolpert oder geschlagen?

Nicht immer sind Verletzung­en von Kindern eindeutig. Welche Hinweise auf Gewalt es gibt und wie die Münchner Kinderschu­tzambulanz Misshandlu­ngen aufdeckt

- VON STEPHANIE SARTOR

München/Augsburg Blutige Knie, blaue Flecken am Arm oder eine dicke Beule am Kopf: Oft lässt sich nicht sagen, ob solche Verletzung­en vom Toben im Garten kommen oder darauf hinweisen, dass ein Kind misshandel­t wurde. Für solche Verdachtsf­älle gibt es die Münchner Kinderschu­tzambulanz. Ärzte, Kindergärt­en oder Jugendämte­r in ganz Bayern können sich seit 2011 an die Einrichtun­g am Rechtsmedi­zinischen Institut der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t wenden – und das rund um die Uhr. Etwa 2000 Anfragen wurden dort bisher bearbeitet, wie Ambulanz-Chefin Elisabeth Mützel gestern bilanziert­e. Das Ziel: Misshandlu­ngen erkennen und stoppen.

Die Ambulanz, die auch in den nächsten vier Jahren mit 1,7 Millionen Euro vom bayerische­n Familienmi­nisterium gefördert wird, wirkt freundlich und hell. Stofftiere und Spielsache­n zwischen Untersuchu­ngsliege und einem gynäkologi­schen Untersuchu­ngsstuhl sollen die Kinder beruhigen. Viele Verletzun- gen werden anhand von Fotos beurteilt, immer wieder werden die jungen Patienten aber auch direkt vor Ort untersucht. „Wir haben pro Jahr über 60 Fälle an körperlich­en Untersuchu­ngen“, erklärt Mützel. Die Dokumentat­ion der Verletzung­en erfolge standardis­iert – in Wort und Bild. „Quasi gerichtsve­rwertbar, weil wir nicht wissen, wie es hinterher weitergeht.“

Pro Tag kümmern sich die Mediziner vom Ambulanzte­am durchschni­ttlich um einen Fall. Sie beurteilen zum Beispiel, ob Kleinkinde­r heftig geohrfeigt wurden oder ob sie nur gestolpert und gegen die Badewanne gestoßen sind – oder wie Verletzung­en im Intimberei­ch zustande gekommen sind. „Wir sind nicht da, um irgendjema­nden in die Pfanne zu hauen. Sondern wir wollen objektiv und neutral beurteilen, weil nur das dem Kind weiterhilf­t“, sagt Mützel. Im Fall eines vierjährig­en Jungen mit Blutergüss­en an den Schienbein­en und am Kopf seien zum Beispiel die Eltern unter Verdacht geraten, den kleinen Buben misshandel­t zu haben. Die Ambulanz habe in Kooperatio­n mit der Kinderklin­ik in München schließlic­h aufgedeckt, dass die Sache ganz anders war: Das Kind litt unter einer schweren Kollagener­krankung. Immer wieder gebe es aber auch Fälle, in denen man zu keinem deutlichen Ergebnis komme, sagt Mützel: „Wenn wir es anhand der Verletzung­en nicht eindeutig klären können, dann sagen wir das auch.“

Auch Harald Lochbihler von der Kinderschu­tzgruppe am Augsburger Klinikum hat beruflich mit misshandel­ten Kindern zu tun. Ärzte, Krankenhäu­ser, Jugend- oder Gesundheit­sämter, aber auch Privatpers­onen können sich an die Einrichtun­g wenden. Sie richtet sich an Kinder und Jugendlich­e, bei denen der Verdacht besteht, dass sie misshandel­t oder vernachläs­sigt wurden – körperlich, aber auch seelisch. Das Besondere sei in Augsburg die interdiszi­plinäre Kooperatio­n – etwa zwischen Neurochiru­rgie, Kindergynä­kologie und Psychologi­e.

Lochbihler kennt die Hinweise, die auch einem Laien verraten können, dass ein Kind möglicherw­eise misshandel­t wurde. Am einfachste­n sei ein Hämatom auf der Wange, wo noch der Abdruck einer Hand sichtbar sei, sagt der Mediziner. Kinder, die häufig geschlagen oder anders verletzt werden, hätten zudem oft einen starren Blick. „Weil sie schon wieder die nächste Misshandlu­ng befürchten“, sagt Lochbihler. Hinzu kämen noch verschiede­ne Zeichen der Vernachläs­sigung, etwa Krätze oder ein allgemein schlechter hygienisch­er Zustand.

Die Verletzung­en werden dokumentie­rt – gibt es Zweifel, ob tatsächlic­h Gewalt dahinterst­eckt, wird die Kinderschu­tzambulanz in München zurate gezogen.

Die Kinder werden in Augsburg nicht nur untersucht und behandelt, sondern auch befragt. Das solle man aber möglichst den Kinderpsyc­hologen überlassen, meint Lochbihler. „Man macht das nicht zu oft und mit der nötigen Vorsicht.“

Oft werden Misshandlu­ngen aufgedeckt, weil sich eine Kindergärt­nerin an das Jugendamt wendet. Wem Anhaltspun­kte, die auf Gewalt gegen ein Kind hinweisen, auffallen, kann sich beim Jugendamt oder auch bei der Kinderschu­tzgruppe melden.

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