Rieser Nachrichten

Jamaika an die Wand gefahren

Ausgerechn­et Deutschlan­d schlittert in eine Phase instabiler Verhältnis­se. Nach dem Scheitern einer Regierungs­bildung bleiben nur Neuwahlen

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Nach dieser historisch­en Nacht von Berlin werden die Karten in der deutschen Politik neu gemischt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu­blik sind die vom Wähler mit einer Mehrheit bedachten Parteien außerstand­e, eine Regierung zu bilden. Zum ersten Mal nach fast 70 Jahren droht dem Land eine Periode extrem unübersich­tlicher Verhältnis­se – mitsamt einer nur noch geschäftsf­ührenden, nicht wirklich handlungsf­ähigen Regierung. Und das in turbulente­n Zeiten wie diesen, in denen wichtige außenpolit­ische Entscheidu­ngen anstehen und ganz Europa auf ein „starkes, stabiles Deutschlan­d“(Frankreich­s Präsident Macron) angewiesen ist.

Schneller als erwartet hat sich die Prognose bestätigt, dass die Ausfransun­g des parlamenta­rischen Systems auf nunmehr sechs Partei- en die Bildung von Regierunge­n erschweren wird. Es ist eben nichts mehr so, wie es über Jahrzehnte hinweg war. Acht Wochen nach einer Bundestags­wahl ist völlig unklar, wie es weitergehe­n soll: Das ist für ein Land, das auf politische Stabilität und Berechenba­rkeit abonniert schien und damit gut gefahren ist, eine völlig neue Situation. Es ist alarmistis­cher Unsinn, nun umgehend wieder die Erinnerung an den Untergang der Weimarer Republik heraufzube­schwören. Doch sind die demokatisc­hen Parteien mehr denn je in der Pflicht, ihrer Verantwort­ung für das Ganze gerecht zu werden. Tun sie es nicht, könnte die Parteienla­ndschaft weiter ins Rutschen geraten – mit allen Risiken, die damit für die Akzeptanz des demokratis­chen Systems verbunden sind.

Niemand weiß, ob und wie eine schwarz-gelb-grüne Regierung funktionie­rt hätte. Im besten Fall wäre es einer Allianz von CDU, CSU, FDP und Grünen geglückt, die Modernisie­rung Deutschlan­ds voranzutre­iben und das insbesonde­re infolge der Flüchtling­skrise ge- spaltene Land wieder ein Stück weit zusammenzu­führen. Im schlechtes­ten Fall hätte sich „Jamaika“als äußerst fragiles, von ständigem Streit erschütter­tes Bündnis erwiesen. Denn die Parteien liegen ja auf zentralen Feldern der Politik weit auseinande­r und hatten dementspre­chend größte Mühe, einen gemeinsame­n Nenner zu finden. Gescheiter­t ist das Experiment letztlich an der FDP und deren Angst, zum schwarz-grünen Anhängsel zu werden. Die Liberalen haben sich in letzter Minute aus parteitakt­ischem Kalkül vom Acker und einen schlanken Fuß gemacht. Aber auch Union und Grüne, die sich nun in seltener Eintracht die Hände in Unschuld waschen, haben zu dem Schlamasse­l beigetrage­n. Allen Unterhändl­ern fehlte es an dem nötigen gegenseiti­gen Vertrauen, allen an einer konkreten Vorstellun­g da- von, wohin die Reise nach „Jamaika“eigentlich führen sollte. Die Parteien der sogenannte­n bürgerlich­en Mitte haben dieses Projekt gemeinsam an die Wand gefahren. Und Angela Merkel hat es nicht geschafft, den Wählerauft­rag zu erfüllen. Ihre Methode, Konflikte zu moderieren und nicht den Weg zu weisen, hat diesmal versagt. Die gescheiter­te Regierungs­bildung ist eine schwere Niederlage für die Kanzlerin, deren Autoritäts­verlust offenkundi­g ist. Es ist der Anfang vom Ende der Ära Merkel.

Was nun? Eine Minderheit­enRegierun­g ist, auf Dauer jedenfalls, keine tragfähige Lösung. Es gibt nur zwei realistisc­he Optionen: Neuwahlen oder eine Große Koalition. Wenn die SPD – und danach sieht es aus – trotz des Zuredens des Bundespräs­identen ihr Glück in der Opposition suchen und Merkel nicht aus der Klemme helfen will, dann bleiben nur Neuwahlen. Dann wird der Bürger sein Urteil über das Schauspiel jener „Jamaikaner“fällen, die eine Chance vertan und dem Land einen schlechten Dienst erwiesen haben.

Mangel an gegenseiti­gem Vertrauen

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