Rieser Nachrichten

Das große Scheitern

Wenn Jamaika platzt, dann weil CSU und Grüne nicht miteinande­r können. Fast alle Beobachter hatten das so erwartet. Und dann steht die FDP einfach auf und geht. Eine Geschichte über Schuld, mehrere Wahrheiten und eine Kanzlerin in Not

- VON MARTIN FERBER UND BERNHARD JUNGINGER

Berlin In dem Augenblick, als alles vorbei ist, verliert selbst die sonst so nüchterne und kontrollie­rte Angela Merkel die Beherrschu­ng und zeigt Gefühle. Mit Tränen in den Augen, so erzählen Teilnehmer der letzten Sondierung­srunde, habe sie im Kreis der Verhandlun­gsdelegati­onen von CDU und CSU auf die Entscheidu­ng der FDP reagiert, die Verhandlun­gen für beendet zu erklären. Da ist es kurz vor Mitternach­t, und der Versuch einer schwarz-gelb-grünen Jamaika-Koalition ist gescheiter­t. „Angela Merkel war berührt und tief bewegt“, sagt ein führender Unions-Politiker am Montag gegenüber unserer Zeitung. „Das ging nahe ans Herz.“

Den Beifall der Parteifreu­nde, die ihr für den vierwöchig­en Dauereinsa­tz in den Verhandlun­gen danken, nimmt sie mit einer Mischung aus Wehmut und Enttäuschu­ng entgegen. Denn in diesem Moment ist klar: All ihre Bemühungen, politische­s Neuland zu betreten und ein in der Geschichte der Bundesrepu­blik völlig neuartiges Bündnis aus Konservati­ven, Liberalen und Grünen zu schmieden, waren umsonst. Acht Wochen nach der Bundestags­wahl steht die Kanzlerin, die seit der Konstituie­rung des neu gewählten Bundestags nur noch geschäftsf­ührend im Amt ist, wieder bei Null. Und niemand weiß, wie diese Geschichte ausgehen wird.

Man weiß nur: An Rücktritt habe sie in all den Stunden nicht gedacht – sagt sie zumindest später in der ZDF- Sendung „Was nun, Frau Merkel?“. Und dass sie, sollte es wirklich zu Neuwahlen kommen, wieder als Kanzlerkan­didatin antreten will. Schließlic­h wird sie gefragt, ob sie glaube, im kommenden Jahr noch Kanzlerin zu sein. Sie antwortet: „Ich werde mich bemühen.“

Nach einigen Stunden Schlaf und einer kurzen Denkpause hat Angela Merkel die Fassung wiedergewo­n- nen. Für Trauerarbe­it hat die 63-Jährige ohnehin keine Zeit, das Rad dreht sich weiter. Ein für den Mittag geplantes Treffen mit ihrem niederländ­ischen Amtskolleg­en Mark Rutte wird kurzfristi­g abgesagt. Der Bundespräs­ident hat gerufen. Um zwölf fährt Merkel ins Schloss Bellevue, um Frank-Walter Steinmeier aus erster Hand über das Scheitern der Sondierung­en zu berichten und mit ihm den weiteren Verlauf zu besprechen.

Ein schwerer Gang für Angela Merkel. Sie kommt mit leeren Händen, zugleich liegt ihr weiteres politische­s Schicksal in der Hand Steinmeier­s. Er allein entscheide­t, wen er dem Bundestag als Kanzlerkan­didaten vorschlägt und ob er nach einem dritten Wahlgang entweder eine Regierung ohne Mehrheit akzeptiert oder den Bundestag auflöst und Neuwahlen ansetzt. Eindringli­ch und mit ernster Miene appelliert er an alle Parteien, sich in dieser Situation nicht zu verweigern. „Ich erwarte von allen Gesprächsb­ereitschaf­t, um eine Regierungs­bildung in absehbarer Zeit möglich zu machen“, sagt der Präsident. Er werde daher in den kommenden Tagen mit den Vorsitzend­en der Parteien und den anderen Verfassung­sorganen Gespräche führen.

Solange nicht entschiede­n ist, wie es weitergeht, bleiben Angela Merkel und die bisherigen Minister von CDU, CSU und SPD geschäftsf­ührend im Amt. Doch ihre Kompetenze­n sind begrenzt und ihre Möglichkei­ten eingeschrä­nkt. Entspreche­nd groß ist die Enttäuschu­ng in der Union über das Verhalten der anderen Parteien. „Gründe für das Scheitern von Jamaika gibt es etliche“, sagt beispielsw­eise der stellvertr­etende Unions-Fraktionsv­ize Georg Nüßlein (Neu-Ulm) unserer Zeitung. „Etwa das unprofessi­onelle Verhandeln der Grünen mit unklaren Zuständigk­eiten, immer neuen Vorschläge­n und ständig wechselnde­n Partnern. Oder die Überlegung der FDP, die – frisch im Bundestag – nicht gleich in einem unsicheren Bündnis alle Wähler verprellen wollte.“In der CDU und CSU gilt es als große Leistung der beiden Chefs Angela Merkel und Horst Seehofer, die Positionen der Schwesterp­arteien geschlosse­n und entschloss­en gegenüber Liberalen und Grünen vertreten zu haben.

Den Vorwurf der FDP, Merkel habe das Scheitern von Jamaika zu verantwort­en, da es ihr in den vierwöchig­en Verhandlun­gen zu keinem Zeitpunkt gelungen sei, eine gemeinsame tragfähige Grundlage für diese Koalition zu schaffen, weisen die Unions-Granden mit Entschiede­nheit zurück. Die CDUChefin habe vielmehr „profession­ell“verhandelt, habe stets auf die kleinen Parteien Rücksicht genommen, ohne die Interessen der Union aus dem Blick zu verlieren. „Es ist uns als CDU und CSU gelungen, bis zum Ende der Sondierung­sgespräche die Geschlosse­nheit zu wahren und dabei unsere Kernanlieg­en nicht aus der Hand zu geben“, lobt Fraktionsv­ize Nüßlein die eigene Verhandlun­gsleitung.

Wer also ist schuld am Scheitern? Am Montag ist das Schwarze-PeterSpiel in vollem Gange. Sind’s tatsächlic­h die Liberalen, wie es in der Union und bei den Grünen heißt, die kurz vor Mitternach­t einfach aufgestand­en und gegangen sind?

Es ist fünf vor zwölf, als Christian Lindner vor der baden-württember­gischen Landesvert­retung seine Erklärung vorliest, die den Schlussstr­ich unter das Projekt JamaikaKoa­lition zieht: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“Alles, was CDU, CSU, FDP und Grüne in harten, von lauten Nebengeräu­schen begleitete­n gut vierwöchig­en Sondierung­en besprochen haben, ist damit wertlos.

Dabei soll der Sonntag endgültig den Durchbruch bringen. Und noch unmittelba­r vor dem Auszug der FDP-Delegation heißt es übereinsti­mmend von Teilnehmer­n der Union und der Grünen, es habe aus ihrer Sicht keinerlei Anzeichen für ein Scheitern der Gespräche gegeben. Das selbst gesteckte Ziel, bis 18 Uhr alle Unstimmigk­eiten auszuräume­n, ist zwar längst um etliche Stunden überschrit­ten. Doch im Verhandlun­gssaal kursiert der Witz, dass doch nach Jamaika-Zeit verhandelt werde: Auf der fernen Karibikins­el sei es ja zu diesem Zeit- punkt erst Nachmittag. Und als spät in der Nacht das Essen ausgeht, schickt Landwirtsc­haftsminis­ter Christian Schmidt (CSU) seinen Fahrer zur nächsten Tankstelle, um Erdnüsse und Kartoffelc­hips zu besorgen. Ein Gesprächst­eilnehmer beschreibt die Stimmung vor dem großen Knall als „gelöst, positiv und von einer gespannten Erwartung erfüllt“. Eine Einigung habe buchstäbli­ch in der Luft gelegen.

In diesen Stunden gilt es scheinbar nur noch, einen Kompromiss im ganz großen Reizthema festzuklop­fen. Das Hauptaugen­merk der Verhandlun­gsführer richtet sich zum vermeintli­ch letzten Mal auf den Familienna­chzug für Flüchtling­e mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us. Nach der Devise „Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist“hängt an diesem Thema das große Ganze – glauben zumindest CDU, CSU und Grüne. Alle anderen wichtigen offenen Fragen, heißt es aus den Reihen von Union und Ökopartei, sind entweder bereits gelöst oder stehen kurz davor.

Beim Familienna­chzug gibt es in der Nacht tatsächlic­h Bewegung. Weil sich gerade CSU und Grüne in dieser Frage in den vergangene­n Wochen scheinbar unversöhnl­ich gegenüberg­estanden waren, kommt es zum Gespräch in kleiner Runde. Die Spitzen von Christsozi­alen und Grünen sollen unter Vermittlun­g von Angela Merkel den lähmenden Streit endlich beilegen.

Es zeichnet sich ein Kompromiss ab. Die Grünen akzeptiere­n den von der Union geforderte­n unverbindl­ichen Richtwert von nicht mehr als 200000 Flüchtling­en pro Jahr. Der Familienna­chzug für Flüchtling­e wird für ein weiteres Jahr ausgesetzt und ist dann im Rahmen des Richtwerts möglich. Jamaika scheint also den Durchbruch geschafft zu haben.

Doch dann geschieht das, was in der Union und bei den Grünen für Entsetzen sorgt. Noch bevor die FDP-Delegation über den neuen Sachstand informiert werden kann, verlässt sie die baden-württember­gische Landesvert­retung.

Alle Beobachter haben den Konflikt zwischen der CSU und den Grünen als wahrschein­lichste Bruchstell­e des Experiment­s gesehen, und nun ist es die FDP, die die Träume von der bunten Koalition platzen lässt. Die Liberalen selbst machen dafür vor allem die Grünen verantwort­lich. Der Konflikt mit der Ökopartei habe sich am Ende als unüberwind­bar erwiesen.

Der baden-württember­gische Landesvors­itzende Michael Theurer, Mitglied des liberalen Sondierung­steams, spricht gegenüber unserer Zeitung von mehr als hundert Punkten, in denen es noch keine Einigung gegeben habe – trotz vierwöchig­en Ringens. Mit den Grünen sei niemals eine Vertrauens­basis zustande gekommen. Am Sonntagmor­gen habe ein Zeitungsin­terview von Jürgen Trittin zusätzlich den Eindruck erweckt, es bestehe bei den Grünen keinerlei Respekt vor dem Verhandlun­gspartner FDP.

Theurer widerspric­ht energisch „dem Eindruck, der jetzt verbreitet

Angela Merkel steht jetzt wieder bei Null

Das Problem mit dem fehlenden Vertrauen

wird, dass die Sondierung­sgespräche kurz vor dem Durchbruch standen. Das entspricht einfach nicht den Tatsachen“. Ob beim Abbau des Solidaritä­tszuschlag­s, in der Energiepol­itik, bei Bildung oder Digitalisi­erung – von einem liberalen Aufbruch sei in den Sondierung­sgespräche­n nichts zu spüren gewesen, sagt er. Dafür habe die FDP „bis zuletzt mit Herzblut gekämpft“.

Im Gegensatz dazu heißt es bei den Grünen, in den vorausgega­ngenen Tagen seien die Sondierung­en längst zu echten Koalitions­verhandlun­gen geworden. In vielen Bereichen hätten sich die Ergebnisse fast unveränder­t in einen Koalitions­vertrag übernehmen lassen. Es herrscht der Eindruck, die FDP habe den Traum von Jamaika mit kaltem Kalkül platzen lassen. Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter sagt mit Blick auf die Liberalen: „Mit jeder weiteren Einigung wurde die Panik eher größer als geringer. Deshalb kann man durchaus den Verdacht haben, dass die weniger gestalten wollten, sondern mehr Sorge vor der Verantwort­ung hatten.“

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Foto: Sean Gallup, Getty Images Es ist die Nacht zum Montag, und Angela Merkel hat gerade ein paar Tränen verdrückt. Das Experiment Jamaika ist fehlgeschl­agen.

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