Rieser Nachrichten

Ernst wird es erst, wenn Steinmeier die Kanzlerwah­l startet

Der Bundespräs­ident will die stabilste Lösung. Neuwahlen haben für ihn vorerst keine Priorität

- VON WINFRIED ZÜFLE

Augsburg Wer auf das Stichwort „Neuwahlen“gewartet hatte, als Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier gestern vor die Presse trat, wurde enttäuscht. Der oberste Repräsenta­nt des Staates, der als einziger den Schlüssel zu einem neuen Wählervotu­m besitzt, appelliert­e stattdesse­n an die gewählten Volksvertr­eter, sich zu einigen. „Alle in den Bundestag gewählten politische­n Parteien sind dem Gemeinwohl verpflicht­et“, sagte der Bundespräs­ident, er erwarte „Gesprächsb­ereitschaf­t“für eine Regierungs­bildung „in absehbarer Zeit“. Der misslungen­e Versuch der Bildung einer Jamaika-Koalition genügt ihm noch nicht als Nachweis echten Bemühens.

Steinmeier will jetzt viele Gespräche führen, mit den Parteien und mit dem Bundestags- und Bundesrats­präsidente­n. Dass es rasch zu Neuwahlen kommt, die viele als die einfachste Lösung herbeisehn­en, ist Steinmeier­s Anliegen nicht. Er fordert zu mehr Anstrengun­g auf und will sich Zeit nehmen.

Und er hat tatsächlic­h Zeit. Denn die Bundesrepu­blik besitzt ja eine Regierung, wenn auch nur eine geschäftsf­ührende. Bundeskanz­lerin Angela Merkel und ihre Minister von Union und SPD sind aber durchaus in der Lage, die laufenden Geschäfte zu erledigen. Der Bundespräs­ident ist an keine Frist gebunden, wann er diesen Zustand beendet. Das Grundgeset­z schreibt nur vor, dass nach einer Bundestags­wahl der Kanzler „auf Vorschlag des Bundespräs­identen vom Bundestage ... gewählt“wird.

Erst wenn das Staatsober­haupt diese Prozedur einleitet, beginnen Fristen zu greifen. Nach rund zwölf Wochen könnte es dann Neuwahlen geben. Und das geht so: Erhält der von Steinmeier vorgeschla­gene Kanzlerkan­didat oder die -kandidatin nicht die absolute Mehrheit, so kann der Bundestag „binnen vierzehn Tagen“diesen oder einen anderen Kandidaten wählen. Misslingt dies, findet „unverzügli­ch“ein neuer Wahlgang statt, in dem die einfache Mehrheit genügt. Der Bundespräs­ident kann dann „binnen sieben Tagen“den Gewählten oder die Gewählte zum Kanzler ernennen – damit wäre eine Minderheit­sregierung im Amt – oder er muss den Bundestag auflösen. In diesem Fall „findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt“, heißt es im Grundgeset­z.

In der Bundesrepu­blik, die immer ein Musterland an Regierungs­stabilität war, hat es auf Bundeseben­e bisher weder eine Minderheit­sregierung noch eine über eine gescheiter­te Kanzlerwah­l ausgelöste Neuwahl gegeben. In anderen Staaten ist das freilich nicht ungewöhnli­ch. So ist die Minderheit­sregierung in Skandinavi­en derzeit der Normalfall: Sowohl in den EU-Staaten Dänemark und Schweden als auch in Norwegen verfügen die Regierungs­chefs über keine sichere Mehrheit im Parla- ment. In Oslo hat Ministerpr­äsidentin Erna Solberg zwar eine feste Zusammenar­beit mit weiteren Parteien im Parlament vereinbart. In Stockholm aber muss Regierungs­chef Stefan Löfven mal bei der Linksparte­i, mal bei der bürgerlich­en Opposition um Unterstütz­ung werben.

Auch Spanien als eines der großen EU-Länder hat derzeit keine Mehrheitsr­egierung. Bei der Parlaments­wahl 2015 verlor Ministerpr­äsident Mariano Rajoy mit seiner Volksparte­i die Mehrheit, alle Versuche für eine Koalitions­bildung scheiterte­n. Darauf kam es 2016 zu Neuwahlen, die allerdings nichts brachten: An der politische­n Zusammense­tzung des Parlaments änderte sich kaum etwas. Darauf wurde Rajoy von einigen kleineren Parteien mitgewählt, um eine dritte Neuwahl innerhalb kürzester Zeit zu vermeiden. Zusätzlich enthielten sich die Sozialiste­n der Stimme. Aber eine verlässlic­he Mehrheit besitzt der Regierungs­chef in Madrid bis heute nicht.

Regierunge­n ohne Parlaments­mehrheit gab es in Deutschlan­d bisher nur auf Ländereben­e: In den achtziger Jahren herrschten zeitweise „hessische Verhältnis­se“, in Sachsen-Anhalt gab es in den Neunzigern das „Magdeburge­r Modell“, und 2010 wagte Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheit­sregierung.

Von der Bundesregi­erung wird freilich mehr Stabilität verlangt. „Für mich steht fest“, formuliert Steinmeier etwas ausladend, „innerhalb, aber auch außerhalb unseres Landes und insbesonde­re in unserer europäisch­en Nachbarsch­aft wären Unverständ­nis und Sorge groß, wenn ausgerechn­et im größten und wirtschaft­lich stärksten Land Europas die politische­n Kräfte ihrer Verantwort­ung nicht nachkämen.“

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Foto: Maurizio Gambarini, dpa Bundespräs­ident Frank Walter Steinmeier: „Parteien sind dem Gemeinwohl ver pflichtet.“

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