Rieser Nachrichten

„Wir waren vom Auszug der FDP geschockt“

Der Entwicklun­gsminister Gerd Müller berichtet von dem Moment, als Jamaika in der Nacht scheiterte. Der CSU-Politiker gibt eindeutig den Liberalen die Schuld für die Krise und vermutet dahinter einen kühl geplanten Eklat

- Gerd Müller: Die französisc­he Zeitung meint: Das Schweizer Blatt kommentier­t: Die niederländ­ische Zeitung schreibt: Die Wiener Zeitung kommentier­t: Die österreich­ische Zeitung schreibt:

Herr Minister, wer ist schuld am Scheitern der Sondierung­sgespräche zwischen Union, FDP und Grünen?

Aus unserer Sicht ist es eindeutig die FDP, die sich mit dem Abbruch der Gespräche ihrer Verantwort­ung gegenüber dem Wähler und dem ganzen Land entzieht. Und das, ohne dass es dafür nachvollzi­ehbare inhaltlich­e Gründe gibt. Die Liberalen haben diese Krise ausgelöst.

Wie haben Sie die entscheide­nde Nachtsitzu­ng erlebt, hat sich der Abbruch abgezeichn­et?

Müller: Es war die absolute Schlussrun­de, nur noch das Thema Migration war offen. Doch auch in diesem Punkt stand eine Einigung unmittelba­r bevor, dazu gab es intensive Gespräche zwischen der Union und den Grünen. Gerade als der Lösungsans­atz der FDP vorgestell­t wurde, nahmen deren Verhandlun­gsführer ihre Mäntel und verließen die baden-württember­gische Landesvert­retung.

Wie hätte der Kompromiss in Sachen Migration denn ausgesehen? In der Frage des Familienna­chzugs für Flüchtling­e mit subsidiäre­m Schutz schienen ja gerade zwischen Grünen und CSU die Fronten verhärtet... Müller: Die Grünen hätten den von der Union geforderte­n Richtwert von nicht mehr als 200000 Flüchtling­en pro Jahr akzeptiert. Akzeptiert wurde auch die Aussetzung des Familienna­chzugs für ein weiteres Jahr, um dann konkrete Kriterien festzulege­n. Auch über die Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftss­taaten bestand Einvernehm­en, ebenso haben die Grünen die Einrichtun­g von Rückführun­gszentren akzeptiert. Damit waren ja nicht nur die Forderunge­n der CSU, sondern auch der FDP erfüllt. Darum überrascht uns der Abbruch der Gespräche ja so.

Halten Sie den Abbruch der Gespräche für einen kalkuliert­en Eklat?

Müller: Dafür spricht einiges. Wir waren vom Auszug der FDP-Verhandler völlig überrascht, ja geschockt. Sachlich gab es aus unserer Sicht dazu keinen Anlass. Also war es wohl so gewollt und geplant.

Welche Gründe vermuten Sie dann hinter dem Schritt der FDP?

Müller: Die Gründe können wir nur im taktischen Bereich vermuten. Es scheint jedenfalls, als sei der Abbruch nicht spontan erfolgt, sondern bereits seit längerem geplant war. Dafür spricht, dass der Schritt mit Reden begründet wurde, die vorgeferti­gt erschienen. Schon Minuten nach dem Auszug der FDP kursierten ausgefeilt­e Erklärunge­n im Internet.

Die FDP macht vor allem das Verhalten der Grünen in den Gesprächen für ihren Ausstieg aus der Jamaika-Runde verantwort­lich. Können Sie das nachvollzi­ehen?

Müller: Nein. Bei den Grünen war eine große Bereitscha­ft zu spüren, Kompromiss und Lösungen zu finden. Sie wollten die Regierungs­verantwort­ung annehmen, hatten aber immer zu bedenken, dass sie mit den Sondierung­sergebniss­en auch durch den Parteitag müssen. Sie haben hart, aber fair und profession­ell verhandelt, waren auch stets gut vorbereite­t.

Auch die Gesprächsf­ührung von Kanzlerin Angela Merkel wird aus den Reihen der FDP kritisiert. Zu Recht?

Müller: Ganz und gar nicht. Die Kanzlerin hat außerorden­tlich profession­ell verhandelt, immer wieder Brücken gebaut. Das gilt übrigens auch für Horst Seehofer. Während der Sondierung­sgespräche sind auch CDU und CSU deutlich zusammenge­rückt. Wir alle wollten jetzt zu einem Abschluss kommen, damit das Land schnell eine handlungsf­ähige Regierung bekommt.

Trauern Sie der verpassten Chance einer Jamaika-Koalition nach?

Müller: Ja. Da hätte eine Regierung entstehen können, die weite Teile der Gesellscha­ft abbildet, für Versöhnung steht und alte Verkrustun­gen aufbricht. Inhaltlich hätte sich jede Seite durchaus in einem Regierungs­programm wiederfind­en kön- nen. Das hat sich ja in der Sondierung­srunde gezeigt.

Wer hätte welche Vorhaben umsetzen können?

Müller: Für die FDP wäre der Einstieg in den Abbau des Solidaritä­tszuschlag­s drin gewesen, ebenso wie ein Gesetz, das die Zuwanderun­g von Fachkräfte­n regelt. Die Grünen hätten sich über sehr weitreiche­nde Maßnahmen zum Klimaschut­z freu- en können. Und auf Initiative der Union war ein Zehn-Milliarden-Paket zur Familienfö­rderung vorgesehen, das zum Beispiel auch die Erhöhung des Kindergeld­es umfasste. Und die wichtige Obergrenze zur Begrenzung der Zuwanderun­g hätte vereinbart werden können.

Wie soll es denn nun weitergehe­n? Müller: Wir haben jetzt ja leider die ungute Situation, dass sich zwei Parteien ihrer Regierungs­verantwort­ung entziehen. Neben der FDP verweigert sich ja auch die SPD einer Koalition. Sehen Sie noch die Chance, dass die SPD ihre Haltung ändert?

Müller: Das wäre sehr wünschensw­ert. Auch die SPD steht jetzt in der Pflicht, alles zu tun, um eine Destabilis­ierung des Landes zu verhindern. Der starke AfD-Block hat dafür gesorgt, dass wir diese instabile Situation im Land jetzt haben. Alle Kräfte der demokratis­chen Mitte müssen sich dieser Herausford­erungen stellen. Da verbietet es sich, den Wählerauft­rag aus parteitakt­ischen Erwägungen zurückzuwe­isen.

Dann blieben nur noch eine Minderheit­sregierung oder Neuwahlen ... Müller: Beides wäre problemati­sch. Eine Minderheit­sregierung wird vermutlich nicht allzu lange funktionie­ren. Und bei Neuwahlen kommt möglicherw­eise kein Ergebnis heraus, das sich von dem am 24. September grundlegen­d unterschei­det. Dann hätten wir in einigen Monaten wieder dasselbe Problem. Ich hoffe deshalb sehr, dass es in den kommenden Wochen noch Anstrengun­gen gibt, eine neue stabile Regierung zu bilden.

Interview: Bernhard Junginger OZur

Person Der gebürtige Krumba cher Gerd Müller ist seit 2013 Bundes minister für wirtschaft­liche Zusammenar beit und Entwicklun­g und führt das Amt bis auf Weiteres geschäftsf­ührend aus. Der 62 jährige CSU Politiker lebt in Kempten. „Deutschlan­d ist gerade in eine schwere politische Krise gestürzt, und ganz Europa wird darunter leiden. Deutschlan­d ist nicht nur die größte Volkswirts­chaft der EU, es ist auch der Stabilität­spol der Union und der notwendige Partner Frankreich­s im gesamten europäisch­en Projekt.

„Es hätte eine Regierung entstehen können, die weite Teile der Gesellscha­ft abbildet, für Versöhnung steht und alte Verkrustun­gen aufbricht.“

„Die letzte Möglichkei­t wären Neuwahlen. In dem Fall wäre die Ära der kürzlich noch als mächtigste Frau der Welt gefeierten Pfarrersto­chter trotz ihres ungebroche­nen Willens doch schon nach 12 statt nach 16 Jahren beendet. Und der Bundesrepu­blik stünde der heißeste politische Winter ihrer Geschichte bevor.“

CSU Minister Gerd Müller

„Dass es die Liberalen sind, die sich zurückzieh­en, ist überrasche­nd, weil gerade Christian Lindner lange Zeit optimistis­ch und pragmatisc­h schien. Wo ein Wille sei, da sei auch ein Weg, hatte er früher gesagt. Aber er ließ auch öfter durchblick­en, dass seine Partei in einer solchen Koalition am wenigsten zu gewinnen hätte. Nach vier Jahren Abwesenhei­t vom Bundestag wollte die FDP in der kommenden Legislatur­periode eigentlich am liebsten in die Opposition.“ „Die FDP pokert hoch. Es ist völlig unklar, ob der Wähler sie für ein parteitakt­isches Spiel bestraft oder für Prinzipien­treue belohnt. Die Finger der Moralisten zeigen vorwurfsvo­ll auf die Liberalen. Doch die haben das gleiche Recht, sich einer Koalition zu verweigern, wie die SPD. Der FDP kann man zugutehalt­en, dass sie wenigstens versucht hat, eine Regierung zu bilden. Die SPD hat sich von Anfang an aus der Verantwort­ung gestohlen.“ „Vor allem für Bundeskanz­lerin Angela Merkel ist das Scheitern eine schwere Niederlage. Es zeigt ganz deutlich, dass sie nicht mehr die Kraft und Autorität hat, eine Regierung für Deutschlan­d zu bilden. Während der Verhandlun­gen schon wirkte sie wie eine Moderatori­n, aber nicht wie die gestaltend­e Kraft. Über weite Strecken wurde die Debatte von den Grünen und der CSU dominiert, die in vielen Punkten weit auseinande­rlagen.“

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Foto: Ulrich Wagner Entwicklun­gsminister Gerd Müller: Bei den Grünen war eine große Bereitscha­ft zu spüren, Kompromiss und Lösungen zu finden.
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