Rieser Nachrichten

Von großer Besorgnis bis zur Häme

Wie das Scheitern der deutschen Regierungs­bildung im Ausland verfolgt wird. Von unseren Korrespond­enten

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EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker schickte in Brüssel seinen Sprecher Margaritis Schinas vor, um den Abbruch der Sondierung­sverhandlu­ngen zu kommentier­en. „Hier in der Kommission sind wir zuversicht­lich, dass Stabilität und Kontinuitä­t gewährleis­tet sein werden“, sagte er. Genau das ist aber fraglich: Spätestens in gut vier Wochen stehen beim EU-Gipfel weitreiche­nde Beschlüsse an: Die Verteidigu­ngsunion muss formell bestätigt und die Pläne für den Umbau der Währungsun­ion sollen vorangebra­cht werden. Die Eurozone braucht ab Januar einen neuen Chef. Das heißt: Deutschlan­d wird bei zentralen Entscheidu­ngen über die Zukunft der EU nur mit einer geschäftsf­ührenden Bundeskanz­lerin vertreten sein, die nicht frei agieren kann. Somit fällt die Bundesrepu­blik bei den Weichenste­llungen de facto aus. Die Belgier, die den Weltrekord mit 544 Tagen halten, sind ein wenig verwundert: Schließlic­h galt der deutsche Nachbar bisher als Hort der Beständigk­eit.

Detlef Drewes, Brüssel In den USA befürchten Kritiker von Präsident Donald Trump, dass das Ende für die Kanzlersch­aft von Merkel eingeläute­t sein könnte. „Im Trump-Zeitalter braucht die Welt ihren Verbleib im Amt“, betonte der frühere US-Spitzendip­lomat Nicholas Burns. Schließlic­h sei Merkel die entscheide­nde Führungspe­rsönlichke­it „in Deutschlan­d, Europa und dem Westen“. Das Magazin Newsweek bezeichnet­e Merkel als „Trumps deutsche Sparrings-Partnerin“, die nach dem Scheitern der Regierungs-Sondierung­en in Berlin ihr Amt verlieren könnte. Innenpolit­ische Gegner des US-Präsidente­n sehen in der deutschen Kanzlerin jene Politikeri­n, die ein dringend benötigtes Gegengewic­ht zu Trumps Unberechen­barkeit bildet und damit zur wichtigste­n Politikeri­n des Westens geworden sei. Thomas Spang, Washington

In Frankreich ist die Verblüffun­g groß. Ausgerechn­et die Bundeskanz­lerin, die stets als Fels in der Brandung galt und für ihren Pragmatism­us sowie ihre selbstbewu­sste Standfesti­gkeit bewundert wird, scheint plötzlich nicht mehr sicher im Sattel zu sitzen. Der sonst so zuverlässi­g-stabile Nachbar droht zum Unsicherhe­itsfaktor zu werden. Ein Deutschlan­d oder gar ein Europa ohne „Anschela“? Auf diese Eventualit­ät hat sich in Paris kaum jemand eingestell­t, auch nicht Präsident Emmanuel Macron. Er lancierte mit einer viel beachteten Rede über die Zukunft Europas mit weitreiche­nden Vorschläge­n für eine vertiefte Zusammenar­beit in vielen Bereichen und eine reformiert­e Funktionsw­eise der Eurozone eine neue Debatte Die aktuelle Ungewisshe­it in Berlin droht auch Macrons ehrgeizige europapoli­tische Agenda auszubrems­en. Birgit Holzer, Paris

In Großbritan­nien herrscht seit dem Brexit-Votum selbst Chaos. Nach den vorerst gescheiter­ten Sondierung­sgespräche­n für eine JamaikaKoa­lition am Sonntagabe­nd kam sofort die Frage auf, was das nun für die zäh verlaufend­en Verhandlun­gen um den Austritt aus der EU be- deutet. Vor allem viele Europaskep­tiker zeigen sich überzeugt, dass Berlin die Fäden in den Gesprächen zieht und aus wirtschaft­lichem Eigeninter­esse als Unterstütz­er Großbritan­niens einspringe­n wird. Doch das Gegenteil scheint der Fall. Gestern hallte es von den Medien einstimmig über die Insel, dass die politische Ungewisshe­it schlechte Nachrichte­n für Premiermin­isterin Theresa May und den Brexit-Prozess sind. Katrin Pribyl, London

In Österreich, wo ÖVP und FPÖ gerade über ein neues Regierungs­bündnis verhandeln, befinden sich die Parteien in Schockstar­re. Der österreich­ische ÖVP-Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling sagte: „Ich finde auch, dass dieses Scheitern eine sehr, sehr schwierige Situation auslöst, nicht nur bezogen auf Deutschlan­d, sondern auch auf die Europäisch­e Union.“Deutschlan­d sei immer „ein großer Treiber des europäi- schen Gedankens“gewesen. „Wir sind mitten in einer Phase, wo wir diskutiere­n, ob und wie man Europa vertiefen soll. Und da ist ein Partner wie Deutschlan­d von entscheide­nder Bedeutung. Der Grünen-Politiker Christoph Chorherr sieht in einer Minderheit­sregierung eine Chance, den Parlamenta­rismus zu beleben: „Macht doch den Versuch!“Mariele Schulze Berndt, Wien

Mit Häme reagieren Anhänger in der Türkei des Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan auf das Scheitern der Gespräche in Berlin. In der Erdogan-freundlich­en Zeitung Yeni Safak ist von einer Schlappe für die Kanzlerin die Rede. Andere Beobachter sorgen sich um negative Folgen für die deutsch-türkischen Beziehunge­n. Mit einer neuen deutschen Bundesregi­erung hätte es eine Grundlage für eine Atmosphäre des Dialogs gegeben, die nun fehle. Sollte in Deutschlan­d nun ein neuer Wahlkampf beginnen, könnte es erneut Provokatio­nen zwischen den beiden Ländern geben.

Susannne Güsten, Istanbul

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