Rieser Nachrichten

Das Trauma von 2013 wirkt noch nach

Notfalls lieber Opposition: Was Christian Lindner und seine Liberalen aus der Vergangenh­eit gelernt haben

- VON RUDI WAIS

Augsburg/Berlin Ein Nachmittag im Oktober vergangene­n Jahres. Christian Lindner sitzt in seinem Büro in der Parteizent­rale der Liberalen und macht seinem Ärger über die Kanzlerin Luft. Nach der Wahl 2009, klagt er im Interview mit unserer Zeitung, habe Angela Merkel die FDP „am ausgestrec­kten Arm verhungern lassen“. Die Steuersenk­ungen, die der damalige Parteichef Guido Westerwell­e im Wahlkampf versproche­n hatte, tauchten später im Koalitions­vertrag nur in vager, unverbindl­icher Form wieder auf und wurden deshalb auch nie Wirklichke­it. „Das passiert uns kein zweites Mal mehr“, sagt Lindner. Und fügt hinzu: „Notfalls gehen wir lieber in die Opposition.“

In der Nacht zum Montag ist genau dieses Szenario eingetrete­n: Eine Partei, der nachgesagt wird, sie wolle um jeden Preis regieren, hat sich explizit gegen das Regieren entschiede­n. Aus dem Trauma vom September 2013, als die Freien Demokraten für ihre nicht eingelöste­n Wahlverspr­echen teuer bezahlten und aus dem Bundestag flogen, zieht Lindner eine spektakulä­re Konse- quenz. „Lieber nicht regieren als falsch regieren.“Sollen Union und Grüne ihm empört vorwerfen, er habe schon lange auf ein Scheitern hingearbei­tet und die eigenen Interessen vor die Interessen des Landes gestellt: Seine Partei steht hinter ihm. Am Ende hätte die FDP nicht einmal mehr den Abbau des Solidaritä­tszuschlag­es durchbekom­men, betont der Allgäuer Abgeordnet­e Stephan Thomae. „Wir wären nur die nützlichen Idioten gewesen.“

So gesehen folgt Lindner mit seiner Politik der kalkuliert­en Abgrenzung nur einem schon lange geschriebe­nen Drehbuch. Die Liberalen, hat er einmal gesagt, hätten in der deutschen Politik keine natürliche­n Verbündete­n. So ähnlich hatte zwar auch schon Westerwell­e argumentie­rt, als er der FDP eine „Äquidistan­z“zu den anderen Parteien verordnete, um theoretisc­h mit der SPD genauso koalieren zu können wie jahrzehnte­lang nur mit der Union. Am Ende aber benötigte es eine hochkant verlorene Wahl, um die Liberalen zu einer neuen Standortbe­stimmung und einem personelle­n Neuanfang zu zwingen.

Seitdem versucht Lindner, das Image der FDP als Klientelpa­rtei und Mehrheitsb­eschaffer zu korrigiere­n und sie als „Partei der vernünftig­en Mitte“neu zu positionie­ren, die für eine Krankensch­wester genauso wählbar sein soll wie für einen Apotheker, Steuerbera­ter oder Handwerksm­eister. Ein enger Vertrauter des FDP-Chefs behauptet gar, Lindner stelle die Machtfrage im bürgerlich­en Lager. Wenn die Ära Merkel einmal zu Ende sei, so die Logik dahinter, werde die CDU in eine längere Phase der Orientie- rungslosig­keit schlittern – die Gelegenhei­t für die FDP, enttäuscht­e Konservati­ve an sich zu binden. Auch deshalb, heißt es, habe Lindner sich in den Jamaika-Sondierung­en jede Lockerung beim Familienna­chzug für Flüchtling­e verbeten.

Schon direkt nach der Wahl und dem Wiedereinz­ug in den Bundestag hatte Lindner davor gewarnt, eine Jamaika-Koalition als Selbstläuf­er zu sehen, wenn nicht gar als romantisch­es Pilotproje­kt: Politik sei nicht Mathematik, mahnte er da in der Welt. Die FDP werde sich nicht in eine Koalition drängen lassen, „die keinen Raum für eigenes Profil, keine Stabilität und kein Vertrauen bietet“. Am Ende sprachen aus seiner Sicht dann nicht nur die fehlenden Fortschrit­te in der Sache für einen Abbruch, sondern auch die atmosphäri­schen Verwerfung­en.

In vielen Arbeitsgru­ppen und Spitzenrun­den gewannen die liberalen Unterhändl­er den Eindruck, dass der Kanzlerin vor allem das Wohlbefind­en der Grünen am Herzen lag, denen sie beim Kohleausst­ieg weit entgegenka­m. „Die kriegen alles – und wir nicht einmal den Soli“, schimpft ein Mann mit Einfluss in der FDP. Ähnlich soll es bei der Bildung und der geplanten Digitalisi­erungsoffe­nsive ausgesehen haben, zwei weiteren Herzensthe­men der Liberalen. „Man hat uns die Brosamen angeboten“, tobt der rheinland-pfälzische Wirtschaft­sminister Volker Wissing, „und nannte das ein faires Angebot.“Das Ende der Sondierung sei daher nicht unerwartet gekommen, sondern fast zwangsläuf­ig, findet auch der Abgeordnet­e Thomae. „Es war ein Ausstieg mit mehrfacher Ansage.“

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Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa FDP Vorsitzend­er Christian Lindner: „Das passiert uns kein zweites Mal mehr.“

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