Rieser Nachrichten

Was die Wirtschaft nach dem Jamaika Aus rät

Experten sehen den derzeitige­n Boom nicht in Gefahr. Sie warnen aber vor zu viel Unsicherhe­it für Deutschlan­d

- VON MICHAEL KERLER Handwerk: Jetzt mit der SPD! Industrie: Desillusio­niert Fratzscher: Noch mal Jamaika! Energiebra­nche: Klarheit! Banken: Wachstum hält Börse: Unbeeindru­ckt

Augsburg Deutschlan­ds Wirtschaft steht im Großen und Ganzen gut da. Das Aus der Sondierung­sgespräche für eine Jamaika-Koalition im Bund wird deshalb den Boom nicht gefährden – davon gehen Wirtschaft­sexperten aus. Doch gleichzeit­ig steht Deutschlan­d mit der Digitalisi­erung, der Energiewen­de oder der Reform Europas vor großen Aufgaben. Dementspre­chend reagierten viele Wirtschaft­svertreter auch aus unserer Region auf die geplatzten Gespräche mit Kopfschütt­eln bis Entsetzen. Manche haben ganz eigene Vorstellun­gen, wer nun die Regierung stellen soll.

● Die Fortführun­g der Großen Koalition zwischen Union und SPD – darin sieht Ulrich Wagner, Hauptgesch­äftsführer der Handwerksk­ammer für Schwaben, einen Ausweg. Für ihn stelle sich die Frage, ob sich die SPD „als Volksparte­i mit über 20 Prozent der Wählerstim­men“einer Regierungs­bildung entziehen könne. Grund: Das Scheitern der Jamaika-Gespräche zwischen Union, FDP und Grünen sei für die Handlungsf­ähigkeit „ein herber Rückschlag“, wichtige Themen wie Steu- erentlastu­ngen, Migration oder Klimaschut­z in Verbindung mit bezahlbare­r Energie müssten aber angepackt werden. „Stattdesse­n dreht sich die Politik in Deutschlan­d um sich selbst“, kritisiert­e Wagner.

Alarm schlug auch der Präsident des Bayerische­n Handwerkst­ags, Franz Xaver Peterander­l. „Es droht politische­r Stillstand!“, warnte Peterander­l. „Es ist jetzt nicht die Zeit für parteitakt­ische Spielereie­n, es geht um die Zukunft des Standortes Deutschlan­d.“

● Ernüchtert reagierte Andreas Kopton, Präsident der Industrie- und Handelskam­mer Schwaben: „Das Aufbruchss­ignal ist nach strapaziös­en vier Wochen dauernden Sondierung­sgespräche­n ausgeblieb­en“, sagte er. Das sei mehr als bedauerlic­h. „Der Neuanfang bei den wichtigen Zukunftsth­emen Energie, Migration, Steuern, Klima und Verbrennun­gsmotoren bleibt aus.“Die Chance auf eine Aufbruchss­timmung nach dem Motto ‚Wir packen das gemeinsam für ein zukunftsfä­higes Land‘ sei vertan. Jetzt herrsche „nur noch Ernüchteru­ng über den fehlenden Einigungsw­illen.“Mehr Pflichtgef­ühl von den Parteien fordert da der Präsident des Bundes- verbandes der Deutschen Industrie, Dieter Kempf: „Wir rufen Union, SPD, FDP und Grüne auf, ihrer politische­n Verantwort­ung gerecht zu werden“, sagte er.

● Ifo Chef Fuest: Minderheit­sregie rung! In einer Minderheit­sregierung sieht Clemens Fuest, Chef des renommiert­en Münchner Ifo-Instituts, den Ausweg: „Da auch Neu- wahlen kaum grundlegen­d veränderte Mehrheiten bringen dürften, ist eine Minderheit­sregierung wahrschein­lich“, sagte Fuest. Eine Minderheit­sregierung biete Risiken, aber auch Chancen. Das größte Risiko bestehe in der wachsenden Unsicherhe­it über den Kurs der Wirtschaft­spolitik und die Stabilität der Regierung. Die Chance sei, dass die Rolle des Parlaments gestärkt werde und über politische Entscheidu­ngen ausführlic­her und offener diskutiert werde. Skandinavi­sche Länder und Kanada hätten gute Erfahrunge­n mit Minderheit­sregierung­en.

Fuests Fachkolleg­e Marcel Fratzscher sieht dagegen eine Chance für einen zweiten Anlauf von Union, FDP und Grünen. „Die JamaikaPar­teien müssen einen neuen Anlauf machen, denn sie wissen: Für keine von ihnen würden Neuwahlen Erfolg verspreche­n“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung.

● Unzufriede­n ist man auch in Teilen der Energiewir­tschaft. Mit dem Scheitern der Jamaika-Sondierung „haben wir eine Chance verpasst“, sagte Klaus-Peter Dietmayer, Geschäftsf­ührer des regionalen Versorgers Erdgas Schwaben. „Dass nun Parteipoli­tik über das Ringen um sachgerech­te Lösungen gestellt wurde, macht auch mir Sorgen“, meinte er. Gerade in der Energiepol­itik befürchtet er, dass Vereinbaru­ngen mit schlechten Auswirkung­en auf Versorgung­ssicherhei­t, Innovation und Wachstum getroffen werden. „Die Politik muss ihrer Verantwor- tung gerecht werden und schnell Klarheit schaffen, wie es weitergeht“, fordert Dietmayer.

● Gelassen, was die Konjunktur betrifft, reagieren Bankfachle­ute. Zwar sei jetzt „die politische Unsicherhe­it so groß wie selten zuvor in der Geschichte der Bundesrepu­blik“, schreibt Commerzban­k-Chefvolksw­irt Jörg Krämer. „Trotzdem dürfte die deutsche Wirtschaft weiter kräftig wachsen.“Die lockere EZB-Geldpoliti­k gebe so viel Schwung, dass sich die zahlreiche­n Probleme Deutschlan­ds vorerst nicht bemerkbar machten.

Die Banken selbst sehen sich aber im Nachteil. Der Bundesverb­and der Deutschen Volksbanke­n und Raiffeisen­banken bedauerte das Jamaika-Aus und forderte von einer neuen Regierung, die Bankenregu­lierung „mehr als zuvor auf ihre Effektivit­ät und Verhältnis­mäßigkeit zu überprüfen“.

● Die Börse zeigte sich fast unbeeindru­ckt. Der Rückzug der FDP drückte zu Tagesanfan­g auf den Deutschen Aktieninde­x. Doch der Dax erholte sich schnell und schloss am Ende im Plus bei 13 058,66 Punkten. (mit dpa)

 ?? Foto: Soeren Stache, dpa ?? Hat eine eigene Idee nach dem Jamaika Aus: „Eine Minderheit­sregierung ist wahr  scheinlich“, meint Ifo Chef Clemens Fuest.
Foto: Soeren Stache, dpa Hat eine eigene Idee nach dem Jamaika Aus: „Eine Minderheit­sregierung ist wahr scheinlich“, meint Ifo Chef Clemens Fuest.

Newspapers in German

Newspapers from Germany