Der Reiz der Technik
Früher zogen Wanderprediger durchs Land und warnten vor Trinklust, Völlerei und verstecktem Liebesspiel. Die modernen Wanderprediger reisen durch das Internet und raten immer öfter zu elektronischer Enthaltsamkeit. Denn der häufigste Sündenfall ereignet sich heute nicht mehr am Biertisch, beim Festmahl und im Heustadel, sondern am Computer.
Tatsächlich ist nicht zu bestreiten, dass die Seuche der elektronischen Abhängigkeit um sich greift wie einstmals die Cholera. Da muss rasch eingeschritten werden, denn Millionenen Zeitgenossen sind beim stundenlangen Surfen von Muskelschwäche, Realitätsverlust und sprachlicher Verstümmelung bedroht.
Die Heilmethoden sind neu und deshalb umstritten. Wer einem computersüchtigen Menschen „Kein schöner Land“vorsingt, um ihn zu einem Spaziergang aufzufordern, veranlasst den Patienten meist nur zu einem weiteren Facebook-Mausklick. Wer die Vorzüge eines gemeinsamen Umtrunks schildert, muss damit rechnen, dass der Suchtgeplagte die Statistik zur rückläufigen Wirtshauskultur herbeigoogelt. Und wer dem Dauersurfer vorhält, dass er die Freuden der Liebe versäumt, kann bequem beobachten, wie der Süchtige wegen ein paar Links die Liebe links liegen lässt.
Gegen so viel technische Faszination ist schwer anzukommen, weil auch Goethe in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ein ähnliches Bekenntnis in einfacherer Sprache hinterlassen hat: „Mich reizte die reinliche Technik.“