Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (14)
Dann verengten sich ihre Augen, und Miss Emily flüsterte grimmig vor sich hin, als diskutierte sie mit einem unsichtbaren Kollegen, welche Strafe im vorliegenden Fall anzubringen sei. Die Folge war, dass man hin und her gerissen war zwischen dem sehnlichen Wunsch, es zu erfahren, und dem dringenden Bedürfnis, sich die Ohren zuzustopfen. In den meisten Fällen war die Strafe dann nur halb so wild. Es geschah nur selten, dass sie jemand in den Arrest schickte, Strafarbeit verordnete oder Vergünstigungen strich. Dennoch fühlte man sich schon bei dem Gedanken, dass man in ihrer Achtung gesunken war, ganz entsetzlich und wollte unbedingt etwas unternehmen, um den Fehler wieder gutzumachen.
Leider war Miss Emily völlig unberechenbar. Sylvie mag damals ihre ganze Wut zu spüren bekommen haben, aber als Laura erwischt wurde, wie sie durch das Rhabarberbeet lief, fuhr Miss Emily sie nur an: „Da hast du nichts zu suchen. Raus aus dem Beet, Mädchen!“, und ging weiter.
Und einmal hatte ich selbst Angst, es mir mit ihr verscherzt zu haben. Einer meiner Lieblingsplätze in Hailsham war der kleine Pfad, der dicht hinter dem Haus entlangführte und sich in sämtliche Nischen schmiegte, sämtlichen Erkern folgte. Auf diesem Pfad musste man sich an wuchernden Büschen vorbeizwängen, ging unter zwei efeuumrankten Torbögen hindurch und durchschritt ein rostiges Tor, und auf dem ganzen Weg konnte man nacheinander in sämtliche Fenster schauen. Dass ich diesen Pfad so gern mochte, lag zum Teil wohl auch daran, dass ich nie sicher war, ob es nicht vielleicht verboten war, ihn zu betreten. Während der Unterrichtszeiten durfte man sich natürlich nicht hier aufhalten. Aber am Wochenende oder am Abend? Das war nie klar. Die meisten zog es ohnehin nicht hierher, und vielleicht machte das Gefühl, hier allein sein zu können, auch den Reiz dieses Pfads aus. Jedenfalls unternahm ich diesen Spaziergang auch einmal an einem sonnigen Abend, als ich, glaube ich, in Senior 3 war. Wie immer spähte ich im Vorbeigehen in die leeren Klassenzimmer, und auf einmal blickte ich in einen Raum, in dem nur Miss Emily war. Sie schritt langsam auf und ab und redete vor sich hin, wandte sich gestikulierend an ein unsichtbares Publikum. Ich dachte, sie bereitete ihren Unterricht vor oder probte für eine ihrer Reden auf der Versammlung, und wollte mich rasch aus dem Staub machen, ehe sie mich entdeckte, aber genau in dem Augenblick drehte sie sich um und blickte mich direkt an. Ich erstarrte und machte mich auf ein Donnerwetter gefasst, aber zu meiner größten Verblüffung fuhr sie fort wie zuvor, nur dass sie ihre Ansprache jetzt an mich richtete. Dann drehte sie sich um und fixierte wieder einen imaginären Schüler in einem anderen Teil des Raums. Ich schlich mich davon, und in der nächsten Zeit fürchtete ich des Öfteren, was Miss Emily wohl sagen würde, wenn sie meiner ansichtig wurde. Aber sie sagte nie ein einziges Wort.
Darüber will ich jetzt aber gar nicht reden. Viel lieber möchte ich ein paar Dinge von Ruth erzählen, davon, wie wir uns kennen lernten und anfreundeten, von unserer ersten gemeinsamen Zeit. Denn inzwischen kommt es immer öfter vor, dass ich, wenn ich an einem langen Nachmittag an Feldern und Wiesen entlangfahre oder auch vor dem Panoramafenster einer AutobahnRaststätte meinen Kaffee trinke, wieder an sie denken muss.
Wir waren nicht von Anfang an Freundinnen. Mit fünf und sechs Jahren war ich mit Hannah und Laura zusammen, das weiß ich noch, aber nicht mit Ruth. Aus diesen frühen Jahren unseres Lebens habe ich nur eine einzige undeutliche Erinnerung an sie.
Ich spiele in einem Sandkasten. Es sind noch viele andere hier, zu viele, wir kommen einander dauernd in die Quere. Wir sind im Freien, die Sonne scheint warm, also ist es wahrscheinlich der Sandkasten auf dem Kleinkinderspielplatz, es kann aber auch der sein, der sich am Ende der Weitsprungbahn auf dem nördlichen Sportplatz befindet. Jedenfalls ist es heiß, ich habe Durst, und das Gedränge im Sandkasten passt mir nicht. Dann sehe ich Ruth dastehen, nicht bei den anderen im Sand, sondern ein paar Meter außerhalb. Sie ist wütend auf zwei Mädchen irgendwo hinter mir, wegen eines Vorfalls, der sich kurz zuvor ereignet haben muss, und sie funkelt die beiden böse an. Wahrscheinlich kannte ich Ruth zu dem Zeitpunkt nur sehr flüchtig, aber sie muss schon damals einen gewissen Eindruck auf mich gemacht haben, denn ich erinnere mich noch genau, dass ich mich mit besonderem Eifer in meine Beschäftigung vertiefte, weil ich eine Heidenangst hatte, ihr Blick könnte auf mich fallen. Ich sagte kein Wort, sondern hoffte nur dringend, ihr sei klar, dass ich mit den Mädchen hinter mir nichts zu tun hatte und an ihrer Wut vollkommen unschuldig war.
Mehr habe ich von Ruth aus der Anfangszeit nicht in Erinnerung. Wir waren im selben Jahr, müssen einander also oft begegnet sein, aber abgesehen von dem Zwischenfall im Sandkasten wüsste ich nicht, dass ich bis zur Unterstufe, als wir sieben, fast acht waren, je mit ihr zusammengekommen wäre.
Der südliche Sportplatz wurde vorwiegend von den Junioren genutzt, und dort, in der Ecke, wo die Pappeln standen, kam Ruth eines Mittags auf mich zu. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und fragte:
„Willst du auf meinem Pferd reiten?“
Ich war mitten in einem Spiel mit zwei oder drei anderen, aber Ruth meinte nur mich. Ich war hingerissen; trotzdem zierte ich mich und überlegte demonstrativ, bevor ich eine Antwort gab.
„Wie heißt denn dein Pferd?“
Ruth trat einen Schritt näher. „Mein bestes Pferd heißt Donner. Auf ihm kann ich dich aber nicht reiten lassen, er ist zu gefährlich. Aber du kannst auf Brombär reiten, solang du ihm nicht die Peitsche gibst. Wenn du willst, kannst du dir auch eins der anderen aussuchen.“Sie zählte noch ein paar Namen auf, die ich längst vergessen habe. Dann fragte sie: „Hast du selber auch Pferde?“Ich sah sie an und dachte gründlich nach, ehe ich antwortete: „Nein. Ich habe keine Pferde.“„Kein einziges?“„Nein.“„Gut. Du kannst auf Brombär reiten, und wenn er dir gefällt, kannst du ihn behalten. Aber du darfst ihm nicht die Peitsche geben. Und du musst jetzt gleich mitkommen.“
Meine Freundinnen hatten sich ohnehin längst abgewandt und spielten allein weiter. Also folgte ich Ruth. Die Wiese war voller spielender Kinder, von denen manche viel größer als wir waren, aber Ruth steuerte zielstrebig zwischen ihnen hindurch, immer einen oder zwei Schritte vor mir. Als wir bei dem Maschendrahtzaun am Ende des Gartens angelangt waren, drehte sie sich um und sagte:
„Okay, hier reiten wir. Du nimmst Brombär.“