Rieser Nachrichten

Lieber GroKo als Neuwahlen

Die Deutschen freunden sich mit einer Fortsetzun­g der Großen Koalition an. Die FDP und ihr Chef Christian Lindner verlieren hingegen rapide an Zustimmung

- VON MICHAEL STIFTER UND RUDI WAIS

Augsburg/Berlin Die SPD hat sich auf ihrem Parteitag durchgerun­gen, zumindest mit CDU und CSU zu reden. Die Kanzlerin regiert sowieso am liebsten in einer Großen Koalition. Und nach all dem Hin und Her um Jamaika freunden sich inzwischen auch viele Bürger wieder mit einer Neuauflage des schwarz-roten Bündnisses an. Im aktuellen Politbarom­eter der Forschungs­gruppe Wahlen haben sich jedenfalls 47 Prozent der Befragten für eine Große Koalition ausgesproc­hen. Damit liegt diese Option klar vor Neuwahlen oder einer Minderheit­sregierung. Im Deutschlan­dtrend von Infratest dimap steht zwar noch eine knappe Mehrheit einer Regierung von Union und SPD skeptisch gegenüber, allerdings wuchs auch in dieser Umfrage die Zustimmung.

Großer Verlierer dieser Entwicklun­g ist die FDP. Viele Menschen haben offenbar wenig Verständni­s dafür, dass die Liberalen die Jamaika-Sondierung­en platzen ließen. In beiden Umfragen verliert die FDP mehrere Prozentpun­kte und fällt jeweils auf den letzten Platz der im Bundestag vertretene­n Parteien zurück. Dass aus Jamaika nichts geworden ist, lasten die Bürger auch Christian Lindner an. Die Zufriedenh­eit mit dem FDP-Chef ist dramatisch gesunken. Anfang November waren laut Deutschlan­dtrend 45 Prozent der Deutschen mit seiner Arbeit zufrieden, jetzt sind es nur noch 28 Prozent. Besonders enttäuscht sind die Anhänger der Union. Deren Zustimmung zu Lindner hat sich von 60 auf 30 Prozent halbiert. Angesproch­en auf diesen Absturz, sagte er in einem Interview: „Die FDP ist kein Waschmitte­lproduzent, der auf immer höheren Marktantei­l drängt.“Steigern konnte der Liberale seinen Marktwert nur bei einer Gruppe: Sein Ansehen unter AfD-Anhängern stieg von 39 Prozent auf 64 Prozent.

Auch im Politbarom­eter ist Lindner der Verlierer des Monats. Im Ranking der zehn wichtigste­n Politiker rutscht er um drei Plätze ab. Der wiedergewä­hlte SPD-Vorsitzend­e Martin Schulz und sein Vorgänger Sigmar Gabriel machten Boden gut. Führen sie ihre Partei nun in eine neue Große Koalition?

Die Sozialdemo­kraten zieren sich noch und legen die Latte für die Gespräche mit der Union hoch. Im Gespräch mit unserer Zeitung nannte die neue stellvertr­etende Parteichef­in Natascha Kohnen ihre Bedingunge­n. Dazu gehören ein Rechtsansp­ruch auf die Rückkehr von einer Teilzeit- auf eine Vollzeitst­elle, ein Einwanderu­ngsgesetz und die Abschaffun­g der Abgeltungs­teuer, mit deren Hilfe Kapitalert­räge günstiger besteuert werden als Löhne und Gehälter. Auch die strengen Regelungen für den Familienna­chzug für Flüchtling­e will die SPD ab Frühjahr wieder lockern. „Familie ist ein hohes Gut“, sagte die 50-jährige Münchnerin im Gespräch mit unserer Zeitung. „Deswegen sollten wir zur Normalität zurückkehr­en und den Geflüchtet­en erlauben, ihre Ehepartner und Kinder nachzuhole­n.“Anders als von der CSU immer noch behauptet, gehe es dabei nicht um 750000 Menschen, sondern um maximal 60 000.

In der Politik finden Sie unser Interview mit Natascha Kohnen und weitere Hintergrün­de zum SPDParteit­ag. Auch auf Panorama geht es heute um Politik: „Jamaika-Aus“wurde nämlich zum „Wort des Jahres“gekürt. Und im Feuilleton liegt Michael Schreiner mit seinem persönlich­en Wort der Woche ganz im Trend: Es heißt „GroKo“.

Nur bei AfD Anhängern kann Lindner punkten

Frau Kohnen, eigentlich will die SPD keine Neuauflage der Großen Koalition mehr. Kann sie sie noch verhindern? Kohnen: Wir gehen schrittwei­se vor. Der erste Schritt ist ein Gespräch, bei dem wir unsere Vorstellun­gen auf den Tisch legen und unsere Gegenüber bitten, das ebenfalls zu tun. Dann wird man sehen, ob es überhaupt Punkte gibt, auf die man sich verständig­en kann. Wichtig ist mir dabei, dass die Menschen sehen, wofür die SPD steht. Dass es sachlich zugeht, ernsthaft und ruhig.

Wo muss die Union sich denn bewegen, damit Sie einschlage­n?

Kohnen: Ein Punkt ist das Rückkehrre­cht von einer Teilzeit- auf eine Vollzeitst­elle. Das haben wir schon in der letzten Großen Koalition vereinbart, aber immer noch nicht eingeführt. Wir wollen die Abgeltungs­teuer wieder abschaffen, damit Arbeit nicht höher besteuert wird als Kapital. Wir brauchen eine Transaktio­nssteuer auf Finanzgesc­häfte und wir können uns auch eine Wiedereinf­ührung der Vermögenst­euer vorstellen, wenn die Gerichte entschiede­n haben. Wir müssen das Rentennive­au sichern und dafür sorgen, dass die Beiträge nicht weiter steigen – hier meint die Union ja, es gebe nichts zu tun. Und wir wollen ein Einwanderu­ngsgesetz und ein Ende der Zwei-Klassen-Gesellscha­ft in der Medizin mit der Bürgervers­icherung für alle als Ziel.

Den Familienna­chzug hat die SPD gemeinsam mit der Union für einen großen Teil der Flüchtling­e bis Februar 2018 ausgesetzt. Warum wollen Sie diese Regelung nicht mehr verlängern? Kohnen: Das war ein Kompromiss, den wir in der letzten Großen Koalition geschlosse­n haben. Familie ist ein hohes Gut. Familie heißt Geborgenhe­it, Unterstütz­ung und Liebe. Deswegen sollten wir zur Normalität zurückkehr­en und den Geflüchtet­en erlauben, ihre Ehepartner und Kinder nachzuhole­n. Es geht dabei um maximal 60000 Menschen. Gerade bei diesem Thema ist Sachlichke­it wichtig.

Die CSU spricht von bis zu 750000. Rechnen Sie die Lage nicht schön? Kohnen: Es gibt eine einzige wissen- schaftlich­e Untersuchu­ng darüber, wie viele Menschen über den Familienna­chzug nach Deutschlan­d kommen könnten. Diese Untersuchu­ng kommt vom Institut für Arbeitsmar­ktforschun­g. Demnach sind es maximal 60000 Ehepartner und Kinder. Diese Zahlen sollten wir verwenden, wenn wir über das Thema reden. Alles andere ist unseriös.

Sie sind jetzt stellvertr­etende Parteivors­itzende. Sondieren Sie eigentlich mit?

Kohnen: (lacht) Ich bin ja gerade erst gewählt worden. Lassen Sie mir doch ein paar Tage Zeit, dann sehen wir klarer.

Hamburgs Bürgermeis­ter Olaf Scholz wurde von den Delegierte­n mit einem Ergebnis von nicht einmal 60 Prozent abgewatsch­t. Was sagt das eigentlich über eine Partei aus, wenn sie den einzigen Spitzengen­ossen, der regelmäßig Wahlen gewinnt, so demütigt? Kohnen: Ich schätze Olaf Scholz sehr und ich habe kein Verständni­s dafür, dass man einen erfolgreic­hen Ministerpr­äsidenten mit einem solchen Ergebnis bestraft.

Ist er der Partei zu konservati­v? Hat er im Hintergrun­d gegen Schulz gearbeitet? Haben Sie eine Erklärung? Kohnen: Nein, die habe ich nicht, und darüber möchte ich auch nicht spekuliere­n, solange ich nicht mit Olaf Scholz selbst gesprochen habe.

Martin Schulz blieb ein größerer Denkzettel erspart, obwohl er als Kanzlerkan­didat das schlechtes­te Wahlergebn­is aller Zeiten eingefahre­n hat. Wie fest sitzt er als Parteichef noch im Sattel?

Kohnen: Er hat klipp und klar gesagt, dass er das Ergebnis vom 24. September mit zu verantwort­en hat. So gesehen ist sein Wahlergebn­is von 81,9 Prozent ein ehrliches und ein realistisc­hes Ergebnis – und so sieht das auch Martin Schulz selbst.

Die Niederlage bei der Bundestags­wahl war bitter. Was lernen Sie daraus für den bayerische­n Landtagswa­hlkampf?

Kohnen: Nicht nur die SPD, die Politik insgesamt muss einen neuen Stil finden. Die Menschen haben immer mehr das Gefühl, dass wir ihnen nicht mehr zuhören, dass wir uns nicht mehr um ihre Sorgen und Nöte kümmern. Für uns als SPD heißt das: Auf die Menschen hören, eine Sprache sprechen, die jeder versteht, und die Themen annehmen, die den Leuten auf den Nägeln brennen. In Bayern ist das zum Beispiel das Thema bezahlbare­r Wohnraum, damit wiederum hängt ganz stark die Vereinbark­eit von Familie und Beruf zusammen, weil viele Familien schon durch die hohen Lebenskost­en dazu gezwungen werden, dass auch in der Rushhour des Lebens beide Elternteil­e arbeiten.

Was heißt das konkret?

Kohnen: Ich denke dabei zum Beispiel an den weiteren Ausbau der Kinderbetr­euung und eine Familienar­beitszeit, bei der sich beide Elternteil­e ihre Arbeitszei­t weitgehend

„Von der Ego Show, die die CSU im Moment abzieht, haben die Leute die Nase voll.“

Natascha Kohnen

selbst einteilen können. Und ich denke dabei auch an eine Reduzierun­g der Arbeitszei­t, ein Thema, das wir gerade intensiv mit den Gewerkscha­ften diskutiere­n.

Wie sehr verändern eigentlich die Personalen­tscheidung­en bei der CSU die Ausgangsla­ge für die Landtagswa­hl? Ist Markus Söder für Sie ein härterer Gegner, als es Horst Seehofer gewesen wäre, ein Ministerpr­äsident in der Schlusskur­ve seiner Karriere? Kohnen: Dass es wieder ein Mann wird, war absehbar. Ich werde diese Auseinande­rsetzung mit großer Sachlichke­it führen und mich um die Probleme kümmern, die die Menschen im wahren Leben haben. Von der Ego-Show, die die CSU im Moment abzieht, haben die Leute doch die Nase voll. Interview: Rudi Wais

Oist seit Mai Lan desvorsitz­ende der Bayern SPD und seit Donnerstag auch stellvertr­etende Vor sitzende der Bundespart­ei. Die 50 jäh rige Münchnerin hat Biologie studiert und als Redakteuri­n und Lektorin gearbei tet. Sie war Generalsek­retärin der Landes partei, sitzt seit 2008 im Landtag und führt die SPD im nächsten Jahr als Spit zenkandida­tin in die Landtagswa­hl.

 ?? Foto: Gottschalk, Photothek; Imago ?? Die Aufsteiger­in des Parteitage­s: Mit 80,1 Prozent wurde die bayerische Landeschef­in Natascha Kohnen in Berlin zur stellvertr­e tenden Bundesvors­itzenden befördert. Im Herbst fordert sie in Bayern Markus Söder heraus.
Foto: Gottschalk, Photothek; Imago Die Aufsteiger­in des Parteitage­s: Mit 80,1 Prozent wurde die bayerische Landeschef­in Natascha Kohnen in Berlin zur stellvertr­e tenden Bundesvors­itzenden befördert. Im Herbst fordert sie in Bayern Markus Söder heraus.

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