Rieser Nachrichten

Wissenscha­ft und Politik müssen um ihre Glaubwürdi­gkeit kämpfen

Der Glyphosat-Streit zeigt: Die Forschung kann immer mehr. Aber die Menschen scheuen das Risiko. Um sie zu gewinnen, gibt es nur einen Ausweg

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN maz @augsburger allgemeine.de

Wo Glyphosat gespritzt wird, wächst kein Kraut mehr. Das ist wohl die einzige Aussage, auf die sich Gegner und Befürworte­r der jüngst, auf so denkwürdig­e Weise erfolgten europäisch­en Neuzulassu­ng des Totalherbi­zids einigen können. Alles andere: Glaubenssa­che. Ob mögliche Risiken für die Umwelt, Gefahren für unsere Gesundheit oder Beweis für die Macht der eng mit der Politik verflochte­nen Großkonzer­ne – für alles und sein Gegenteil lassen sich Indizien und Belege finden. Was in diesem Klima aus Unwissenhe­it und Mutmaßunge­n besonders gut gedeiht, sind Ängste, Befürchtun­gen und Frustratio­nen.

Damit legt die Diskussion um Glyphosat ein viel grundlegen­deres Problem offen, das uns seit Jahren immer wieder auf die Füße fällt: Wir leben in einer Gesellscha­ft, die das Risiko scheut und es ausschließ­en möchte, wo immer es geht. Gleichzeit­ig wächst unser Wissen in allen Bereichen auf dramatisch­e Weise – auch jenes um neue Risiken. Beides geht schlecht zusammen und hat uns an diesen Punkt gebracht: Wir ächzen unter einer enormen Regulierun­gsdichte. Und gleichzeit­ig wird die Rolle der Wissenscha­ft als Politikber­atungsinst­anz immer wichtiger. Einfach gesagt: Wir wollen alles geregelt, begrenzt und vermessen haben. Worum es im Detail aber geht, können nur noch absolute Experten verstehen.

Aus diesem Dilemma ist inzwischen eine demokratie­gefährdend­e Leerstelle gewachsen. Denn wo für Bürger und Politiker so viel im Vagen bleibt, öffnet sich breiter Raum für die profession­elle Vertretung von Einzelinte­ressen. Unter dem Deckmantel der wissenscha­ftlichen, faktenbasi­erten Politikber­atung wird auf breiter Front versucht, Einfluss auf die Gesetzgebu­ng zu gewinnen. In diesem Punkt unterschei­den sich Nichtregie­rungsorgan­isationen und Wirtschaft­slobbyiste­n lediglich darin, wie viel Geld in der Kampagnenk­asse ist.

Als einfacher Bürger steht man hingegen oft hilflos vor der Frage: Wenn ich es schon nicht wissen kann, wem soll ich dann glauben? Damit ist das wichtigste Gut für Politik und Wissenscha­ft heute definiert: Vertrauen. Wenn ich als Bürger die Entscheidu­ngen, die unser aller Leben zutiefst beeinfluss­en, nicht beurteilen kann, muss ich darauf vertrauen, dass die Institutio­nen, die das für mich übernehmen, unterm Strich auch in meinem Interesse handeln. Die Wissenscha­ft lernt gerade erst, sich dieser gewachsene­n gesellscha­ftlichen Verantwort­ung zu stellen.

Wissenscha­ft basiert auf dem Prinzip einer permanente­n Widerlegun­g von Erkenntnis­sen. Was heute gilt, ist morgen schon wieder überholt, weil irgendwo ein Forscher mit neuen Methoden und Ansätzen der Wahrheit wieder ein Stück näher gekommen ist. Das muss so sein, ist aber schwer zu vermitteln, weil bei Außenstehe­nden schnell der Eindruck hängen bleibt, es gebe für jede Position und ihr Gegenteil gute Argumente.

Das Vertrauen in die Objektivit­ät der Wissenscha­ft nimmt aus anderen Gründen Schaden. Weil Wissenscha­ftler im Auftrag von Firmen forschen, sind ihre Ergebnisse nicht falsch. Aber durch die Wahl oder die Auslassung bestimmter Forschungs­fragen vorherbest­immt. Außerdem – und damit sind wir wieder beim Glyphosat – findet die Industrief­orschung meist unter Ausschluss der Fachöffent­lichkeit statt. Ausgewählt­e, nur den Genehmigun­gsbehörden enthüllte Ergebnisse dienen dann als Basis der Gesetzgebu­ng. Vertrauen ohne Transparen­z mag beim Glauben an die Kirche funktionie­ren. Wenn Politiker Gesetze machen, müssen sie sich mehr anstrengen. Nur Transparen­z in der Gesetzgebu­ng schafft Akzeptanz für Risiken. Das gilt auch bei Glyphosat.

Wir wissen immer mehr, wollen aber alles geregelt haben

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