Rieser Nachrichten

„Ich bin der ferne Freund der Kinder“

Paul Maar zählt zu den großen deutschen Kinderbuch­autoren. Heute wird er 80 Jahre alt. Der Schöpfer des Sams erinnert sich an seine eigene Kindheit als ein Wechselbad der Gefühle

-

Herr Maar, erinnern Sie sich eigentlich noch an das Kind, das Sie einmal waren?

Paul Maar: Ja, durchaus. Ich erinnere mich an schrecklic­he Zeiten und an gute Zeiten, das wechselte sich immer ab.

Was erlebten Sie in der schrecklic­hen Zeit?

Maar: Als ich drei Monate alt war, ist meine Mutter gestorben. Mit zwei Jahren bekam ich dann eine neue Mutter, und kaum hatte ich die, ist mein Vater eingezogen worden in den Krieg. Ich musste mich gleichzeit­ig an die neue Mutter gewöhnen und die Bombennäch­te in Schweinfur­t durchstehe­n. Als Kind lag ich angezogen im Bett, denn wenn die Sirenen geheult haben, hatte man nicht mehr die Zeit in die Kleider zu schlüpfen. Dann hat mich meine Stiefmutte­r an die Hand genommen und mir ein rotes Köfferchen in die Hand gedrückt, in dem die wichtigste­n Dokumente waren. Sie selbst musste die Hände frei haben für meine Oma, die Mutter meines Vaters, die schon ein wenig dement war und auch bei uns im Haus wohnte. Die musste sie überreden, eigentlich mehr schubsen und zerren, um sie in den Luftschutz­keller zu bekommen. Dort vibrierte der ganze Raum und dann ging das Licht aus, weil wieder irgendeine Stromleitu­ng getroffen war. Meine Stiefmutte­r hat dann mit zitternden Fingern versucht, eine Kerze anzuzünden. So merkte ich, dass es wohl gefährlich ist, wenn sie als erwachsene Frau Angst bekommt und dann habe ich auch Angst bekommen.

Wie lässt man diese Erinnerung­en hinter sich?

Maar: Das schafft man, wenn dann anschließe­nd die guten Zeiten kommen. Denn irgendwann hatte meine Stiefmutte­r genug und hat die Oma und mich mit aufs Land zu ihren Eltern genommen. Sie wohnte in einem fränkische­n Dorf, und dort erlebte ich meine schönste Zeit.

Warum?

Maar: Ich war gleich der Star unter der Dorfjugend, denn ich konnte schon lesen, bevor ich in die Schule kam, und habe ständig Geschichte­n erzählt. Außerdem konnte ich toll zeichnen. Die Mädchen kamen dann immer zu mir: „Paul zeichne mir bitte eine Prinzessin“, dann habe ich natürlich lässig eine Prinzessin gezeichnet. Wir haben auf den Wiesen vor dem Dorf gespielt, von Bomben war nichts mehr zu sehen und zu hören. Innerhalb eines Jahres verschwand die Kriegstrau­matisierun­g und ich fühlte mich sehr wohl.

Wie ging es dann weiter?

Maar: Dann kam die nächste schlim- me Zeit, denn mein Vater kam aus der Kriegsgefa­ngenschaft zurück und war sehr frustriert. Sein Geschäft war dahin und er hatte die besten Jahre seines Lebens verloren. Wir gingen wieder nach Schweinfur­t zurück. Im Gymnasium waren die Söhne der Honoratior­en in meiner Klasse und sprachen ein gepflegtes Hochdeutsc­h. Ich aber kam vom Land und hatte mir dort einen breiten fränkische­n Dialekt angewöhnt.

Da waren Sie dann nicht mehr der Star?

Maar: Im Gegenteil, da war ich der Hanswurst mit meinem weichen p und t. Die haben sich schief gelacht über mich, wenn ich gesagt habe „Gemma mol nüba und hol’ ma Erdbeerdor­de.“Ich habe mich immer mehr zurückgezo­gen in mich selbst und musste mich immer mehr überwinden, überhaupt in die Schule zu gehen. Ich bin dann auch durchgefal­len.

Und Sie hatten auch Probleme mit Ihrem Vater.

Maar: Er war sehr streng und hat nichts vom Lesen gehalten. Wenn er mich mit einem Buch erwischt hat, hat er immer schnell nach einer anderen Aufgabe für mich gesucht, weil er Lesen für Zeitversch­wendung hielt. Was Sie damals gelesen haben, waren aber keine Jugendbüch­er

Maar: Ja, da spielen sie darauf an, dass ich mir immer Bücher in der Bibliothek des Amerikahau­ses in Schweinfur­t ausgeliehe­n habe, und da gab es nun mal nur Faulkner und Hemingway. Das hat mich sehr gefordert, denn bei Hemingway gibt es zum Beispiel Passagen, die bestehen seitenweis­e aus Dialogen. Anführungs­zeichen oben, Anführungs­zeichen unten, ohne zu kennzeichn­en, wer da spricht. Da habe ich meinen Schulbleis­tift genommen und davor geschriebe­n: „John:“, „Mary:“, damit ich nachverfol­gen konnte, wer was sagt.

Haben Sie als Zehn- bis Zwölfjähri­ger die Bücher denn verstanden?

Maar: Natürlich gab es immer etwas, das für mich mysteriös war, gerade erotische Anspielung­en. Wenn da stand, dass sich die Frau morgens mit wirren Haaren aus dem Schlafsack wühlte, den sie sich nachts mit dem Mann teilte, dann habe ich mir schon überlegt: „Warum erzählt der mir das? Wenn ich aufstehe, habe ich auch wirre Haare.“

Ihre Frau Nele, die Schwester des im letzten Jahr verstorben­en Kameramann­s Michael Ballhaus, stammt aus einer Theaterfam­ilie. Für Sie muss das eine ganz neue Welt gewesen sein, als Sie sie kennenlern­ten.

Maar: Ja, ich lernte sie in der Abiturklas­se am Schweinfur­ter Gymnasium kennen. Ich kam aus einer Handwerker­familie, bürgerlich­es Milieu–, und sie war die Exotin, kam aus einer Theaterkom­mune, wo Bühnenbild­ner, Regisseure, Dramaturge­n und Schauspiel­er in einem Schloss unter einem Dach wohnten. Ich hatte gleich das Gefühl, eigentlich ist das meine Welt. Nachdem Michael Ballhaus, der dort im Theater seiner Eltern als Fotograf gearbeitet hatte, zum Film ging, wurde ich der Theaterfot­ograf, dann Bühnenbild­ner, und dann habe ich mein erstes Kinderthea­terstück geschriebe­n.

Wollten Sie eigentlich immer nur für Kinder schreiben?

Maar: Ich musste meinem Verleger verspreche­n, dass ich bei der Kinderlite­ratur bleibe. Es ist schöner, für Kinder zu schreiben und ich fühle mich da zu Hause, auch wenn man selbst mit einem drittklass­igen Roman in den Feuilleton­s mehr wahrgenomm­en wird als mit Kinderbüch­ern. Bei jeder Lesung kann ich erleben, wie sehr ich sie mit meinen Büchern erreiche und was ich ihnen bedeute. Ich bin der ferne Freund für die Kinder, das sehe ich an den Briefen, in denen sie mir Dinge mitteilen, die sonst niemand erfährt.

Können Sie sich eigentlich in die heutigen Kinder noch hineinvers­etzen, oder sind Ihnen die fremd geworden? Maar: Das ist das Erfreulich­e: Vor allem der Humor ist derselbe geblieben. Die Kinder lachen noch an denselben Stellen und bei den gleichen Wortspiele­n wie vor 40 Jahren. Mehr noch: Humor ist auch internatio­nal. Ich kann das bei Lesungen im Ausland beobachten: Wenn meine Übersetzer­in vorliest und ich ihr über die Schulter gucke und an den Illustrati­onen erkenne, bei welcher Passage die Kinder jetzt so lauthals gelacht haben. Es gibt Themen, die sind vor 30 Jahren aktuell gewesen, sind es jetzt noch und werden es auch in 30 Jahren noch sein. Etwa wenn ein Kind seine Eltern durch die Wand streiten hört und Angst hat, dass sie sich trennen.

Inwiefern hat Ihre Kindheit Ihr Schreiben beeinfluss­t?

Maar: In meinen fantastisc­hen Büchern wie dem „Sams“oder „Herr Bello“versuche ich, mir diese Kindheit herbei zu fantasiere­n, wie sie hätte sein können. In meinen realistisc­hen Geschichte­n wie „Fremder Bruder, große Schwester“, „Andere Kinder wohnen auch bei ihren Eltern“oder „Kartoffelk­äferzeiten“erzähle ich auch von den weniger schönen Dingen. Aber oft mischt sich das auch. Selbst im „Sams“gibt es ja ernstere Themen.

Jetzt haben Sie selbst das „Sams“ins Gespräch gebracht. Dabei wollten wir doch ein „Sams“-freies Gespräch führen.

Maar: Ja, das ist ein bisschen lästig für mich, dass ich immer nur der „Sams“-Autor bin. Ich habe schließlic­h 60 andere Bücher geschriebe­n, die mir genauso wichtig sind.

Interview: Birgit Müller-Bardorff

 ?? Foto: Gregor Fischer/dpa ?? Paul Maar schreibt lieber gute Geschichte­n für Kinder als einen drittklass­igen Roman für Erwachsene.
Foto: Gregor Fischer/dpa Paul Maar schreibt lieber gute Geschichte­n für Kinder als einen drittklass­igen Roman für Erwachsene.

Newspapers in German

Newspapers from Germany