Die Vergangenheit ändert sich
1968, 1918, 1618…: Das neue Jahr ist wieder reich an bedeutenden Jubiläen. Vorsicht! Denn in unruhigen Zeiten ist der politische Umgang mit Geschichte gleich doppelt gefährlich
Geschichte ist Selbstvergewisserung. Wer nicht weiß, woher er kommt, der versteht nicht, wer er ist. Und nur wer aus der Vergangenheit heraus die Gegenwart versteht, findet auch einen stimmigen Weg in die Zukunft.
Das klingt wie eine schöne, aufklärerische Weisheit – denn darum halten wir doch das Erinnern für wichtig, wie es im kommenden Jahr wieder reichlich zu begehen ist; und darum fürchten nicht wenige, dass ein sinkendes Geschichtsbewusstsein in den kommenden Generationen eine Gefahr darstellen könnte: weil sich das Vergangene mit all seinen Katastrophen eben nicht wiederholen soll – zumindest sollten wir doch daraus gelernt haben!
Wäre die Gegenwart nicht die Umbruchzeit, die sie wirtschaftstechnologisch, machtpolitisch und umweltkatastrophisch ist, könnten wir uns darum 2018 in reichlich Vergewisserung auf dem Weg in die Zukunft üben. Welche Fehler wurden gemacht, als vor 100 Jahren endlich das Grauen des Ersten Weltkriegs ein Ende fand und trotzdem allzu schnell der Zweite folgte? Haben uns die radikaldemokratischen Träume eines Kurt Eisner und der Novemberrevolution in München noch etwas zu sagen? Was lehrt uns das große, vor 400 Jahren begonnene Schlachten des Dreißigjährigen Krieges über Herrschaft? Wäre der Westfälische Frieden von 1648 nicht ein Modell für den Nahen Osten heute? Geregelt nach dem 1555 bereits in Augsburg geprägten Prinzip: „cuius regio, eius religio“, wessen Gebiet, dessen Religion?
Aber gerade dieses Thema führt ja aktuell zu einer Macht- und nicht zu einer Vernunftdebatte. Und wer schon an die Jerusalem-Entscheidung Donald Trumps denkt, der kann auch gleich eine weitere aktuelle Verlautbarung des US-Präsidenten hinzunehmen: Da kündigte er ein „Strategie zur nationalen Sicherheit“an, gegen China und Russland, „die Rivalen im Kampf um die Führungsrolle in der Welt“. Und so formt sich ein anderer Blick auf die Geschichte, der ja bereits in Trumps „Make America Great Again“fixiert ist: Denn dieses Again bedeutet ja ein Zurück – zurück in die Zeit, als die USA ihren eigenen Wohlstand wollte und die Entscheidung über Gut und Böse in der Welt innehatte. Zurück in die Zeit des Kalten Krieges also oder in die Zwischenkriegszeit mit allem?
Aber Trump ist ja nur einer. Unter Wladimir Putin lebt in Russland das Gedenken an Stalin wieder auf – dass in dessen Zeit Millionen Russen zermalmt wurden? Der Chinese Xi Jinping stellt sich neben Mao – dass dessen Kulturrevolution Massen das Leben kostete? … Entscheidend nur, dass es Erzählungen einer ehemaligen Größe und Bedeutung sind, die viel mehr in den Herzen als in der Erinnerung andocken sollen.
Ein Narrativ für eine gefühlte Identität statt aufklärerische Selbstvergewisserung – es gibt eine gemeinsame Wurzel für diese sich breitmachende Tendenz; und zwei gefährliche Folgen für den Umgang mit Geschichte. Der 2017 gestorbene, große Soziologe Zygmunt Baumann hat deren Analyse der Welt gleichsam als Vermächtnis hinterlassen. Formuliert im Buch mit dem sprechenden Titel „Retrotopia“, der bereits ausdrückt: Die Utopien, als die Visionen für ein besseres Leben, die sich vormals in die Zukunft richteten, greifen heute zurück in die Vergangenheit.
Die gemeinsame Wurzel ist die Unsicherheit der Umbruchzeit, in der wir leben. Die Gegenwart bereits wirkt bedrohlich und ungewiss, die Zukunft aber macht Angst. Denn die komplexen Probleme, vor denen die Welt steht, sind mit den bisherigen politischen Mitteln nicht mehr zu lösen. Darum verspricht größtmögliche Sicherheit und Kontrolle allein ein Zurück. Und bedeute es auch, wie Baumann auffächert: zurück zur Konfrontationspolitik, zurück „ans Stammesfeuer“, ein Zurück zur sozialen Ungleichheit. Es wirkt zumindest bei jenen, die aktuell glauben, eigentlich nur noch etwas zu verlieren zu haben …
Man mag an Jean Paul denken und dessen Sentenz: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“Tatsächlich trifft hier in viel größerem Maße zu, was er eigentlich als Sehnsucht des Einzelnen beschrieb: dass dieses Erinnern immer auch ein Verklären des Vergangenen bedeutet. Und so kommt zur gefährlichen Rückwendung in die Geschichte die Möglichkeit ihrer willkürlichen Umdeutung. Bei Zygmunt Baumann liest sich das so:
In der Theorie ist die Zukunft das Reich der Freiheit (in dem schlicht alles denkbar ist), die Vergangenheit hingegen das Reich des Unabänderlichen (das nur aus Tatsachen besteht); die Zukunft ist im Prinzip anpassungsfähig – die Vergangenheit hingegen starr, unbeugsam und ein für alle Mal fixiert. In der Praxis der Erinnerungspolitik dagegen haben Zukunft und Vergangenheit ihre Eigenschaften getauscht oder werden wenigstens so behandelt, als wäre dies der Fall. Die Anpassungsfähigkeit und Steuerbar- keit der Vergangenheit, ihre Empfänglichkeit für beliebige Modifikationen, sind zugleich die unabdingbare Voraussetzung für Erinnerungspolitik, die nahezu axiomatische Bedingung ihrer Legitimität und der Möglichkeit, sie beliebig oft wieder neu zu erschaffen. Oberstes Ziel der Erinnerungspolitik ist heutzutage die Legitimation des Anspruchs einer Gruppe „der sogenannten „Nation“auf territoriale politische Souveränität – was wiederum oberstes Ziel des Nationalismus ist.
Aber, kann man ergänzen: Auch auf der Gegenseite wird ja viel von Narrativen und Identitäten geredet, Geschichte also ideologisiert gelesen. Im Gedenkjahr 2018 wird das Aufeinanderprallen in Deutschland wohl beim dritten Jubiläum eskalieren. Denn 50 Jahre nach 1968 gelten den einen die damaligen Veränderungen als Keim der heutigen „Verrottung“der Gesellschaft: kein positiver Heimatbegriff mehr, keine Gemeinschaft, keine Wehrhaftigkeit, kein Wertefundament geblieben bei all der blind moralisierenden Liberalität. Die anderen werden die Nazikeulen schwingen. Oder?
Vielleicht besteht ja in Deutschland (immerhin dem Mutterland der Dialektik) Hoffnung, dass Widersprüchlichkeit der Vergangenheit bleiben darf und daraus eine Synthese auf dem Weg in die Zukunft entsteht. Zygmunt Baumann zitiert Walter Benjamin. Der hatte anhand des „Angelus Novus“-Bildes von Paul Klee den „Engel der Geschichte“beschrieben als einen, der den Blick auf die Trümmer von einst geheftet hat und dadurch rückwärts, blind in die Zukunft driftet. Baumann schließt: „Wir müssen den Engel der Geschichte durch Verführung oder Zwang dazu bringen, sich ein weiteres Mal umzudrehen.“