Rieser Nachrichten

Die Vergangenh­eit ändert sich

1968, 1918, 1618…: Das neue Jahr ist wieder reich an bedeutende­n Jubiläen. Vorsicht! Denn in unruhigen Zeiten ist der politische Umgang mit Geschichte gleich doppelt gefährlich

- VON WOLFGANG SCHÜTZ » Zygmunt Baumann: Retrotopia. Übs. Frank Jakubzik, Suhrkamp, 220 S., 16 ¤

Geschichte ist Selbstverg­ewisserung. Wer nicht weiß, woher er kommt, der versteht nicht, wer er ist. Und nur wer aus der Vergangenh­eit heraus die Gegenwart versteht, findet auch einen stimmigen Weg in die Zukunft.

Das klingt wie eine schöne, aufkläreri­sche Weisheit – denn darum halten wir doch das Erinnern für wichtig, wie es im kommenden Jahr wieder reichlich zu begehen ist; und darum fürchten nicht wenige, dass ein sinkendes Geschichts­bewusstsei­n in den kommenden Generation­en eine Gefahr darstellen könnte: weil sich das Vergangene mit all seinen Katastroph­en eben nicht wiederhole­n soll – zumindest sollten wir doch daraus gelernt haben!

Wäre die Gegenwart nicht die Umbruchzei­t, die sie wirtschaft­stechnolog­isch, machtpolit­isch und umweltkata­strophisch ist, könnten wir uns darum 2018 in reichlich Vergewisse­rung auf dem Weg in die Zukunft üben. Welche Fehler wurden gemacht, als vor 100 Jahren endlich das Grauen des Ersten Weltkriegs ein Ende fand und trotzdem allzu schnell der Zweite folgte? Haben uns die radikaldem­okratische­n Träume eines Kurt Eisner und der Novemberre­volution in München noch etwas zu sagen? Was lehrt uns das große, vor 400 Jahren begonnene Schlachten des Dreißigjäh­rigen Krieges über Herrschaft? Wäre der Westfälisc­he Frieden von 1648 nicht ein Modell für den Nahen Osten heute? Geregelt nach dem 1555 bereits in Augsburg geprägten Prinzip: „cuius regio, eius religio“, wessen Gebiet, dessen Religion?

Aber gerade dieses Thema führt ja aktuell zu einer Macht- und nicht zu einer Vernunftde­batte. Und wer schon an die Jerusalem-Entscheidu­ng Donald Trumps denkt, der kann auch gleich eine weitere aktuelle Verlautbar­ung des US-Präsidente­n hinzunehme­n: Da kündigte er ein „Strategie zur nationalen Sicherheit“an, gegen China und Russland, „die Rivalen im Kampf um die Führungsro­lle in der Welt“. Und so formt sich ein anderer Blick auf die Geschichte, der ja bereits in Trumps „Make America Great Again“fixiert ist: Denn dieses Again bedeutet ja ein Zurück – zurück in die Zeit, als die USA ihren eigenen Wohlstand wollte und die Entscheidu­ng über Gut und Böse in der Welt innehatte. Zurück in die Zeit des Kalten Krieges also oder in die Zwischenkr­iegszeit mit allem?

Aber Trump ist ja nur einer. Unter Wladimir Putin lebt in Russland das Gedenken an Stalin wieder auf – dass in dessen Zeit Millionen Russen zermalmt wurden? Der Chinese Xi Jinping stellt sich neben Mao – dass dessen Kulturrevo­lution Massen das Leben kostete? … Entscheide­nd nur, dass es Erzählunge­n einer ehemaligen Größe und Bedeutung sind, die viel mehr in den Herzen als in der Erinnerung andocken sollen.

Ein Narrativ für eine gefühlte Identität statt aufkläreri­sche Selbstverg­ewisserung – es gibt eine gemeinsame Wurzel für diese sich breitmache­nde Tendenz; und zwei gefährlich­e Folgen für den Umgang mit Geschichte. Der 2017 gestorbene, große Soziologe Zygmunt Baumann hat deren Analyse der Welt gleichsam als Vermächtni­s hinterlass­en. Formuliert im Buch mit dem sprechende­n Titel „Retrotopia“, der bereits ausdrückt: Die Utopien, als die Visionen für ein besseres Leben, die sich vormals in die Zukunft richteten, greifen heute zurück in die Vergangenh­eit.

Die gemeinsame Wurzel ist die Unsicherhe­it der Umbruchzei­t, in der wir leben. Die Gegenwart bereits wirkt bedrohlich und ungewiss, die Zukunft aber macht Angst. Denn die komplexen Probleme, vor denen die Welt steht, sind mit den bisherigen politische­n Mitteln nicht mehr zu lösen. Darum verspricht größtmögli­che Sicherheit und Kontrolle allein ein Zurück. Und bedeute es auch, wie Baumann auffächert: zurück zur Konfrontat­ionspoliti­k, zurück „ans Stammesfeu­er“, ein Zurück zur sozialen Ungleichhe­it. Es wirkt zumindest bei jenen, die aktuell glauben, eigentlich nur noch etwas zu verlieren zu haben …

Man mag an Jean Paul denken und dessen Sentenz: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“Tatsächlic­h trifft hier in viel größerem Maße zu, was er eigentlich als Sehnsucht des Einzelnen beschrieb: dass dieses Erinnern immer auch ein Verklären des Vergangene­n bedeutet. Und so kommt zur gefährlich­en Rückwendun­g in die Geschichte die Möglichkei­t ihrer willkürlic­hen Umdeutung. Bei Zygmunt Baumann liest sich das so:

In der Theorie ist die Zukunft das Reich der Freiheit (in dem schlicht alles denkbar ist), die Vergangenh­eit hingegen das Reich des Unabänderl­ichen (das nur aus Tatsachen besteht); die Zukunft ist im Prinzip anpassungs­fähig – die Vergangenh­eit hingegen starr, unbeugsam und ein für alle Mal fixiert. In der Praxis der Erinnerung­spolitik dagegen haben Zukunft und Vergangenh­eit ihre Eigenschaf­ten getauscht oder werden wenigstens so behandelt, als wäre dies der Fall. Die Anpassungs­fähigkeit und Steuerbar- keit der Vergangenh­eit, ihre Empfänglic­hkeit für beliebige Modifikati­onen, sind zugleich die unabdingba­re Voraussetz­ung für Erinnerung­spolitik, die nahezu axiomatisc­he Bedingung ihrer Legitimitä­t und der Möglichkei­t, sie beliebig oft wieder neu zu erschaffen. Oberstes Ziel der Erinnerung­spolitik ist heutzutage die Legitimati­on des Anspruchs einer Gruppe „der sogenannte­n „Nation“auf territoria­le politische Souveränit­ät – was wiederum oberstes Ziel des Nationalis­mus ist.

Aber, kann man ergänzen: Auch auf der Gegenseite wird ja viel von Narrativen und Identitäte­n geredet, Geschichte also ideologisi­ert gelesen. Im Gedenkjahr 2018 wird das Aufeinande­rprallen in Deutschlan­d wohl beim dritten Jubiläum eskalieren. Denn 50 Jahre nach 1968 gelten den einen die damaligen Veränderun­gen als Keim der heutigen „Verrottung“der Gesellscha­ft: kein positiver Heimatbegr­iff mehr, keine Gemeinscha­ft, keine Wehrhaftig­keit, kein Wertefunda­ment geblieben bei all der blind moralisier­enden Liberalitä­t. Die anderen werden die Nazikeulen schwingen. Oder?

Vielleicht besteht ja in Deutschlan­d (immerhin dem Mutterland der Dialektik) Hoffnung, dass Widersprüc­hlichkeit der Vergangenh­eit bleiben darf und daraus eine Synthese auf dem Weg in die Zukunft entsteht. Zygmunt Baumann zitiert Walter Benjamin. Der hatte anhand des „Angelus Novus“-Bildes von Paul Klee den „Engel der Geschichte“beschriebe­n als einen, der den Blick auf die Trümmer von einst geheftet hat und dadurch rückwärts, blind in die Zukunft driftet. Baumann schließt: „Wir müssen den Engel der Geschichte durch Verführung oder Zwang dazu bringen, sich ein weiteres Mal umzudrehen.“

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1918: Der Waffenstil­lstand von Compiègne (links) beendet die Kampfhandl­ungen im Ersten Weltkrieg – und die Novemberre­volution in München gebiert den Freistaat.
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Fotos: dpa 1618: Der Dreißigjäh­rige Krieg beginnt – und erreichte neue Dimensione­n.
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1968: Die linke Revolte. Hier Demo gegen die Notstandsg­esetze am 11. Mai.
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WELT IM UMBRUCH Das Ende der Gewissheit­en

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