Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (41)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Also hab ich den alten Keffers gefragt, als er gerade wegfahren wollte, ob er die Mülltüte zu einem Laden bringen könnte – ich hatte mich erkundigt und wusste von diesen Läden, wo sie gebrauchte Sachen zu wohltätigen Zwecken verkaufen. Keffers kramte in der Tüte herum, hatte aber keinen blassen Schimmer, was das alles war – wie denn auch? Er gab sein übliches Lachen von sich und sagte, kein Laden, den er kenne, würde solche Sachen nehmen. Und ich sagte, es sind aber gute Sachen, wirklich gute Sachen. Und er merkte, dass ich schon ein bisschen neben mir stand, und wechselte den Ton: ,Okay, Fräulein, ich bring’s zu den Oxfam-Leuten, die verkaufen es für die Dritte Welt.‘ Dann sprang er geradezu über seinen Schatten, denn er sagte: ,Wenn ich’s mir genauer anschaue, hast du Recht: Es sind wirklich gute Sachen!‘ Sehr glaubwürdig klang er jedoch nicht. Wahrscheinlich hat er die Tüte einfach in den nächsten Mülleimer geworfen. Aber dann musste ich es wenigstens nicht erfahren.“Sie lächelte und sagte: „Du warst in dieser Hinsicht anders, das weiß ich noch. Dir war deine Sammlung nie peinlich, du hast sie behalten. Heute tut’s mir Leid, dass ich sie nicht mehr habe.“
Damit will ich sagen, dass wir alle sehr zu kämpfen hatten, uns an unser neues Leben zu gewöhnen, und wahrscheinlich taten wir alle damals Dinge, die wir hinterher bereuten. Ruths Bemerkung hatte mich wirklich aus der Fassung gebracht, aber es wäre völlig sinnlos, sie im Nachhinein für ihr Verhalten in unserer Anfangszeit in den Cottages zu verurteilen.
Als der Herbst anbrach und ich mit unserer neuen Umgebung allmählich vertrauter wurde, fielen mir nach und nach Besonderheiten auf, die ich anfänglich nicht bemerkt hatte. Da war zum Beispiel die merkwürdige Haltung gegenüber Kollegen, die kurz zuvor abgereist waren. Die Veteranen waren immer schnell bereit, witzige Anek- doten über Leute zu erzählen, die sie bei ihren Ausflügen zum White Mansion oder zur Poplar Farm getroffen hatten; aber Studierende, die bis kurz vor unserer Ankunft ihre engen Freunde gewesen waren, existierten praktisch nicht mehr.
Noch etwas fiel mir auf – und ich erkannte einen Zusammenhang –, nämlich das große Schweigen, das sich über bestimmte Veteranen legte, die „auf einen Kurs“gingen – was, wie sogar wir wussten, mit ihrer Ausbildung zu Betreuern zu tun hatte. Meist waren sie vier oder fünf Tage fort, wurden während dieser Zeit aber kaum erwähnt, und wenn sie dann zurückkehrten, wollte eigentlich niemand Details von ihnen wissen. Mit ihren engsten Freunden werden sie wohl unter vier Augen darüber geredet haben. Aber in der Öffentlichkeit galt das ungeschriebene Gesetz, dass über diese Ausflüge in die Außenwelt nicht gesprochen wurde. Ich erinnere mich, wie ich eines Morgens durch das beschlagene Küchenfenster zwei Veteranen zu einem Kurs aufbrechen sah und mich fragte, ob sie im nächsten Frühjahr oder Sommer vielleicht endgültig fort wären und wir dann peinlichst genau darauf achten würden, sie mit keinem Wort zu erwähnen.
Aber es geht vielleicht zu weit, wenn ich behaupte, die Abgereisten seien totgeschwiegen worden. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, wurden sie schon erwähnt. Allerdings geschah das in der Regel indirekt, in Verbindung mit einem Gegenstand oder einer zu erledigenden Aufgabe. Wenn zum Beispiel wieder einmal das Fallrohr der Dachrinne repariert werden musste, wurde lebhaft darüber diskutiert, „wie Mike das immer gemacht hat“. Und draußen vor der Schwarzen Scheune stand ein Baumstumpf, der „Daves Baumstumpf“hieß, weil Dave drei Jahre lang, bis kurz vor unserer Ankunft, darauf gesessen hatte, um zu lesen oder zu schreiben, manchmal sogar bei Kälte und Regen. Und unvergesslich war natürlich Steve. Das Einzige allerdings, was wir je über ihn erfuhren, war, dass er ein großer Freund von Pornoheften war.
Hin und wieder tauchte eines auf, das hinter ein Sofa gerutscht oder in einen Stapel alter Zeitungen geraten war. Es war das, was man „Softporno“nennen würde, obwohl wir von solchen Feinheiten damals noch nichts wussten. Wir hatten nie dergleichen gesehen und wussten nicht, was wir davon halten sollten. Die Veteranen lachten meist, wenn ihnen eines in die Hände fiel, und blätterten kurz darin, bevor sie es angeödet beiseite legten, und deshalb machten wir es genauso. Als Ruth und ich uns das alles vor ein paar Jahren noch einmal in Erinnerung riefen, behauptete sie, es seien Dutzende dieser Hefte im Umlauf gewesen. „Niemand hat zugegeben, dass er scharf drauf war“, sagte sie.
„Aber du weißt ja selber, wie es war. Wenn wieder mal eines auftauchte, taten alle so, als fänden sie es sterbenslangweilig. Und wenn man eine halbe Stunde später wiederkam, war es garantiert verschwunden.“Worauf ich hinaus will: Wann immer eines dieser Hefte zum Vorschein kam, behaupteten alle, es sei ein Überbleibsel aus „Steves Sammlung“. Mit anderen Worten, Steve war für jedes Pornoheft verantwortlich, das in den Cottages herumlag. Wie ich schon sagte, von Steve selbst wussten wir so gut wie nichts. Wir konnten aber durchaus die komische Seite daran sehen, schon damals, und wenn jemand auf ein Pornoheft deutete und sagte: „Sieh an, eins von Steves Heftchen“, schwang immer ein bisschen Ironie darin mit. Den alten Keffers machten diese Hefte übrigens wahnsinnig. Es ging das Gerücht, er sei religiös und nicht nur aller Pornografie abgeneigt, sondern überhaupt gegen Sex jeglicher Art. Manchmal steigerte er sich derart in diese Abneigung hinein, dass sein Gesicht unter dem grauen Schnurrbart vor Wut fleckig wurde – dann stapfte er durchs Haus und stürmte ohne anzuklopfen in sämtliche Zimmer, wild entschlossen, jedes einzelne Exemplar von „Steves Heftchen“zu konfiszieren. In solchen Fällen bemühten wir uns, ihn amüsant zu finden, aber es war etwas wirklich Unheimliches an ihm, wenn er in diesem Zustand war. Zumal das fortwährende Gebrummel, das ihn sonst begleitete, dann auf einmal verstummt war – allein dieses Schweigen verlieh ihm eine beunruhigende Ausstrahlung. Einmal hatte Keffers sechs oder sieben von „Steves Heftchen“eingesammelt und marschierte zu seinem Lieferwagen hinaus. Laura und ich beobachteten ihn von meinem Zimmer aus, und ich lachte über eine Bemerkung von Laura. Dann sah ich Keffers die Autotür öffnen, und vielleicht weil er beide Hände brauchte, um etwas beiseite zu schieben, legte er die Hefte auf einem Stapel Ziegelsteinen vor dem Boilerhaus ab – ein paar Veteranen hatten dort vor ein paar Monaten einen Grill bauen wollen. Vorgebeugt, so dass Kopf und Schultern im Lieferwagen verschwanden, stöberte er endlos lange herum, und irgendetwas sagte mir, dass er trotz eben noch schäumender Wut die Hefte vergessen hatte. Tatsächlich richtete er sich ein paar Minuten später auf, setzte sich hinters Steuer, knallte die Tür zu und fuhr davon. »42. Fortsetzung folgt