Rieser Nachrichten

Hinter Schnauzer und Schlagwort­en

Dieser Philosoph ist nicht auf den „Tod Gottes“oder den „Willen zur Macht“zu reduzieren. Jetzt gibt es einen neuen Zugang zu dem Denk-Abenteurer

- VON GÜNTER OTT Andreas Urs Sommer: Nietz sche und die Folgen. Metzler, 208 S., 16,95 ¤

Ablehnung weckt Neugier. „Nietzsche lohnt sich nicht!“, so belehrte ein Philosophi­eprofessor den damaligen Göttinger Studenten Andreas Urs Sommer. Dieser suchte fortan herauszufi­nden, ob das denn stimme. Heute lehrt Sommer Philosophi­e an der Universitä­t Freiburg im Breisgau und leitet die Forschungs­stelle „Nietzsche-Kommentar“der Heidelberg­er Akademie der Wissenscha­ften. Das ist eine klare Antwort auf ein klares Verdikt.

Dass diese Antwort jenseits aller Fachsimpel­ei allgemeine­n Zündstoff birgt, das beweist Sommers Buch „Nietzsche und die Folgen“. Er führt die von dem Augsburger Literaturw­issenschaf­tler Helmut Koopmann mit „Schiller und die Folgen“gestartete Reihe des Metzler-Verlags auf einen weiteren Höhepunkt.

Nietzsche verschwind­et hinter seinem mächtigen Schnauzer, mehr noch hinter Schlagwort­en wie „Wille zur Macht“, „Ewige Wiederkunf­t des Gleichen“, „Jenseits von Gut und Böse“, „Übermensch“und so weiter. Auf diese Art wird ein verführeri­scher Denker eingeparkt, der in seinem alles andere als systematis­chen und widerspruc­hsfreien Werk bis dahin unbeschrit­tene Wege begangen hat. Es war ihm um die Umwertung der Werte jenseits von Religion und Moral zu tun, die Selbstumwe­rtung eingeschlo­ssen.

Sommer zeichnet den 1869 mit gerade 25 Jahren in Basel zum Philologie-Professor Berufenen mit geschliffe­ner Feder als einen „LuftSchiff­fahrer des Geistes“(„Morgenröth­e“), den die Fragen, Irritation­en und Denkversuc­he in das bislang Ungedachte treiben. Er pflanzt der Philosophi­e den „historisch­en Sinn“ein, unterminie­rt alles Totalitäts­gebaren, räumt die hehren Begriffe wie Wahrheit, Gott und Gerechtigk­eit beiseite, schießt gegen die „Hinterwelt­ler“, bespielt die Denkbühne mit einem Figuren-Arsenal, dem die Maskierung, die Parodie und Heiterkeit ebenso wenig fremd ist wie die donnernden Worte eines Zarathustr­a.

Friedrich Nietzsche erweist sich als meisterhaf­ter Jongleur literarisc­h-aphoristis­cher Formen und schonungsl­oser Experiment­e. Dieses durch Übergänge und fließende Bewegungen angestache­lte DenkSchrei­ben, dem der Sicherheit­sabstand fremd ist, verwehrt die Entnahme wohlfeiler Thesen. Sommer mahnt zur Vorsicht, Lehren sogleich dem Autor Nietzsche dogmatisch zuzuschlag­en. So sei die in Abschnitt 125 der „Fröhlichen Wissenscha­ft“formuliert­e Diagnose vom Tod Gottes selbst „keinem Subjekt zugeordnet; niemand übernimmt für sie die Verantwort­ung“; womöglich liege hier eine „experiment­alphilosop­hische Hypothese“vor.

Nicht vergessen seien Nietzsches Wandlungen. Er verabschie­det die Mythen und begründet sie im „Zarathustr­a“neu. Er feiert die „kulturelle Rundumneue­rung“durch Richard Wagners Musik, eignet sich sogar die Antisemiti­smen des Komponiste­n an – und führt später gegen dessen „Lüge des großen Stils“Bizets heitere „Carmen“ins Feld.

Die Hälfte des geschickt mit Biografisc­hem durchwirkt­en Bandes gilt Nietzsches Nachwelt. Zu Lebzeiten wurde er kaum gelesen, was ihn nicht an einer Art Selbstverg­öttlichung hinderte. Am Ende standen die psychische Zerrüttung und der Tod 1900 in Weimar.

Doch kurz danach geht Nietzsches Stern auf. Der Dichter Gottfried Benn nennt ihn „das größte Ausstrahlu­ngsphänome­n der Geistesges­chichte“. Sommer sortiert das teils bierernste, teils skurrile Gestrüpp der Festschrei­bungen, Editionen und Monografie­n. Nietzsche, so beendet der Autor sein tiefschürf­endes, mit Vergnügen zu lesendes Werk, stoße uns „ins schrecklic­he und schöne Abenteuer der weltanscha­ulichen Unbehausth­eit“.

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Foto: dpa Statt Wagner hörte er irgendwann lieber Bizet: Friedrich Nietzsche.

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