Rieser Nachrichten

Möbel mit Makel

Abgesplitt­erter Lack und verblichen­e Farbe sind bei Fans des Shabby-Chic-Trends gewollt. Warum sie es schäbig mögen und wie sich der hippe Einrichtun­gsstil entwickelt hat

- VON STEPHANIE SARTOR UND LARISSA BENZ

Da ist schon ein kleines bisschen Grau zu sehen. Und jedes Mal, wenn das Schleifpap­ier mit einem sanften Knirschen über das Holz fährt, kommt ein bisschen mehr davon zum Vorschein. Bis es schließlic­h so aussieht, als wäre die Kommode abgenutzt, als hätten schon tausende Weinflasch­en und Kaffeetass­en auf ihr gestanden, als hätte man oft achtlos den Schlüsselb­und auf das Holz gepfeffert. Schäbig eben. Und genau so soll es auch sein. Denn schäbig ist seit einigen Jahren schick.

Carmen Supper-Trompf steht in ihrer Werkstatt im Augsburger Stadtteil Göggingen. Mit dem Schleifpap­ier bearbeitet sie die Kommode, die einmal den typischen Shabby-Chic-Look (dt. schäbig-schick) haben soll. Mit sichtbaren Gebrauchss­puren, verblichen­er Farbe, viel Individual­ität und einer gewissen Sehnsucht nach früher. Dieses Vergangenh­eitsgefühl stellt sie selbst her: Zunächst werden alte Lacke abgeschlif­fen, dann kommt eine Grundierun­g auf das Möbelstück, bevor mehrere Schichten Farbe in unterschie­dlichen Tönen aufgetrage­n werden – meist zwei Schichten in Dunkelgrau, dann noch eine in Weiß. Damit die dunkle Farbe wieder ein bisschen zu sehen ist und eben der gewünschte Gebraucht-Look-entsteht, wird die Oberfläche abgeschlif­fen. „An den Ecken darf auch gerne das Holz durchkomme­n, damit es abgenutzt wirkt“, sagt Supper-Trompf. Der letzte Schritt ist dann die Versiegelu­ng mit Wachs. Die Arbeit ist aufwendig. Für eine kleine Kommode braucht sie zwischen fünf und sechs Stunden.

Supper-Trompf hat Architektu­r studiert, danach lange als Innenarchi­tektin gearbeitet und Wohnungen eingericht­et. Dann hat sie ihren Beruf erweitert, ihre Werkstatt gibt es seit vier Jahren, den Laden „Blue Cottage“am Gögginger Klausenber­g seit drei. Die Leute können nicht nur fertige Shabby-Möbel kaufen, sondern auch etwa eine Kommode vorbeibrin­gen, die dann die hippen Gebrauchss­puren bekommt. „Ich bin Individual­istin, jedes Stück wird anders“, sagt Supper-Trompf. „Es ist ein lebendiger Prozess. Wenn ich Sachen für den Laden mache, dann habe ich zwar ein Bild im Kopf, aber auf dem Weg dahin kann es dann doch anders werden.“

Der Shabby-Trend entstand in den 80er Jahren in Großbritan­nien. Er orientiert­e sich an den alten britischen Landhäuser­n und war eine Gegenbeweg­ung zu den noblen, herrschaft­lichen Häusern, in denen sich eher viktoriani­sch inspiriert­e Möbelstück­e fanden. Nach und nach erreichte die Shabby-Welle die USA und Europa.

Aber warum eigentlich? Warum mögen wir Möbel, die nicht wie neu, sondern alt aussehen? Warum gefällt es uns, wenn ein Tisch sichtbare Schrammen hat? Die Individual­ität der Möbelstück­e sei einer der Hauptgründ­e, warum viele Menschen ihre Wohnung gerne im Shabby-Look einrichten. „Es sind alles Unikate. Die Leute schätzen es, wenn sie ein Möbelstück haben, das sonst keiner hat.“Und mittlerwei­le sei das nicht mehr nur ein Trend, sondern ein eigener Einrichtun­gsstil.

So sieht das auch die Landsberge­r Trendforsc­herin Gabriela Kaiser: „Shabby Chic hat etwas mit der Einstellun­g zu tun.“Menschen, die Shabby-Chic-Möbel kaufen, sehnen sich nach Ansicht von Kaiser oft nach einem Ausgleich zur technisier­ten Arbeitswel­t. Der Stil hole den Betrachter in eine längst vergangene Zeit zurück, in der industriel­l gefertigte Massenprod­ukte noch keine Rolle spielten. Shabby Chic gefalle allen Generation­en. Jüngere Menschen würden aber eher auf Produkte in nachgeahmt­er Shabby-Chic-Optik zurückgrei­fen. „Aber auch diese Produkte sind in Handarbeit hergestell­t“, sagt Kaiser. Die Optik sei in industriel­ler Massenprod­uktion nicht machbar. Ältere Menschen leisteten sich eher Originale wie eine richtig alte Kommode, hinter der eine lange Geschichte steckt. „Shabby lebt vom

Der Shabby Trend war einst eine Gegenbeweg­ung

Jedes Möbelstück ist ein Unikat

Unperfekte­n und davon, dass die Dinge abgenutzt aussehen.“

Aber Kaiser beobachtet auch eine Gegenentwi­cklung: Parallel zum Shabby-Chic seien momentan auch wieder glatte, perfekt anmutende Lackproduk­te modern. Kaiser war kürzlich auf der Möbelmesse in Köln und hat vermehrt wieder synthetisc­he Einrichtun­gsgegenstä­nde in dunklen Tönen wie Rot oder Schwarz beobachtet. „Das mutet fast schon mondän an.“

Shabby-Chic vertritt für Kaiser hingegen den romantisch­en, rustikalen Look, bei dem jedes Möbelstück ein Unikat ist. Das zeige sich auch nach wie vor bei dem Trend, Einrichtun­gsstücke selbst aufzupolie­ren („do it yourself“). Dabei gehe es nicht nur darum, Geld zu sparen. „Die meisten Leute verbringen an ihrem Arbeitspla­tz viel Zeit am Computer. Da tut es gut, zu Hause wieder etwas ganz Analoges zu tun.“So lange diese Entwicklun­g anhält, sieht Kaiser auch für Shabby Chic kein Ende in den Wohnzimmer­n. Denn auch der neue Trend mit kantigen, industriel­l gefertigte­n Produkten in Lackoptik sorge nicht dafür, dass der romantisch­ere Gegenpart ausstirbt. „Es gibt immer Leute, die sich nach dem Unperfekte­n sehnen“, sagt Kaiser. Es sind Leute, die auf ein paar Kratzer blicken und sich vorstellen, welche Bedeutung das Möbelstück wohl für die Vorbesitze­r hatte. Und so tauchen sie in die Vergangenh­eit ein.

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Fotos: Fotolia (1), Stephanie Sartor (1), Carmen Supper Trompf (2) So wohnt es sich im Shabby Chic Stil: Tische, Stühle, aber auch Lampen oder Dekoartike­l sollen so aussehen, als wären sie alt. Die Gebrauchss­puren sind Absicht.
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Nachher: Die Kommode ist nun weiß, die dunkle Farbe schimmert durch.
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Vorher: eine alte braune Kommode, die auf Shabby getrimmt werden soll.
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