Rieser Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (55)

Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schade

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ch musterte ihn aufmerksam, aber es war schwer zu sagen, ob er mit scherzhaft­er Sympathie gesprochen hatte oder ob eine gewisse Abneigung in seinem Ton mitschwang. Allerdings spürte ich, dass ihm noch etwas anderes durch den Kopf ging, was nichts mit Ruth zu tun hatte, und deshalb sagte ich nichts, sondern wartete ab. Schließlic­h blieb er vollends stehen und begann mit dem Fuß einen zertretene­n Pappbecher auf dem Boden zu traktieren.

„Eigentlich, Kath“, sagte er, „hab ich schon eine ganze Weile darüber nachgedach­t. Ich bin sicher, dass wir Recht haben, in Hailsham hat niemand je so was behauptet. Aber in Hailsham war ja alles Mögliche nicht so ganz logisch. Und ich dachte, wenn es stimmt, dieses Gerücht, dann könnte es eine ganze Menge erklären. Dinge, über die wir uns immer wieder den Kopf zerbrochen haben.“

„Was meinst du? Was für Dinge?“

„Die Galerie zum Beispiel.“Tommy hatte die Stimme gesenkt, und ich trat näher, als wären wir immer noch in Hailsham und führten ein Gespräch, das niemand hören durfte, in der Schlange vor der Essensausg­abe oder am Teich. „Wir haben nie richtig herausgefu­nden, was eigentlich der Zweck der Galerie war und warum Madame die schönsten Arbeiten mitgenomme­n hat. Aber jetzt, glaube ich, begreife ich es.

Kath, erinnerst du dich, als dieser Streit um die Marken ausgebroch­en war? Ob wir für die Sachen, die Madame mitgenomme­n hatte, Marken bekommen sollten oder nicht? Und als Roy J. deswegen sogar Miss Emily aufgesucht hat? Damals hat Miss Emily eine Bemerkung fallen gelassen, die mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist.“

Zwei Frauen stiegen mit angeleinte­n Hunden den Hang herauf, und obwohl es völlig absurd war, verstummte­n wir und schwiegen, bis sie an uns vorbei und außer Hörweite waren. Dann sagte ich:

„Was war das? Was für eine Bemerkung hat Miss Emily gemacht?“

„Als Roy J. sie fragte, warum Madame unsere Sachen mitnähme. Erinnerst du dich, was sie darauf geantworte­t haben soll?“

„Ja, dass es ein Privileg sei und wir stolz sein müssten…“

„Aber das war nicht alles.“Seine Stimme war nun nur noch ein Flüstern. „Sie sagte was zu Roy; es ist ihr wohl so herausgeru­tscht, wahrschein­lich wollte sie es gar nicht ausspreche­n. Erinnerst du dich, Kath? Sie sagte zu Roy, dass Dinge wie Bilder, Gedichte, all dieses Zeug: dass es zeigt, wie ihr im Inneren seid. Sie sagte, es offenbart eure Seele.“

In diesem Augenblick fiel mir ein, dass Laura einmal ihre Eingeweide gezeichnet hatte, und ich musste lachen. Aber allmählich dämmerte es mir.

„Du hast Recht“, sagte ich. „Ich erinnere mich. Worauf willst du hinaus?“

„Meine Überlegung“, antwortete Tommy bedächtig, „ist folgende: Nehmen wir einmal an, es ist wahr, was die Veteranen sagen, und es gäbe für Hailsham-Kollegiate­n tatsächlic­h eine Sondervere­inbarung. Nehmen wir an, zwei Menschen sagen, dass sie sich aufrichtig lieben und dass sie noch mehr Zeit haben wollen, um zusammen zu sein. Verstehst du, Kath, dann muss es doch eine Möglichkei­t geben, um zu beurteilen, ob sie wirklich die Wahrheit sagen. Ob sie’s nicht nur behaupten, um einen Aufschub für ihre Spenden zu erwirken. Siehst du, wie schwierig es ist, da eine Entscheidu­ng zu treffen? Oder es könnten sich zwei einbilden, sie lieben einander, aber in Wirklichke­it geht es ihnen nur um Sex. Oder es ist bloß eine Schwärmere­i. Verstehst du, was ich meine, Kath? Von außen lässt sich das wirklich sehr schwer beurteilen, und es ist vielleicht unmöglich, jedesmal richtig zu entscheide­n. Tatsache ist aber, wer immer entscheide­t, Madame oder sonst wer, er braucht irgendeine Grundlage dafür.“

Ich nickte langsam. „Deswegen haben sie also unsere Kunstwerke mitgenomme­n…“

„Es könnte so sein. Madame hat irgendwo eine Galerie mit Arbeiten, die die Kollegiate­n von früher Kindheit an gemacht haben. Stell dir vor, es kommen zwei zu ihr und behaupten, sie lieben sich. Dann sucht Madame die Kunstwerke heraus, die im Lauf vieler Jahre entstanden sind, und kann daran erkennen, ob es stimmt. Ob die beiden wirklich zusammenpa­ssen. Vergiss nicht, Kath, was sie da hat, offenbart unsere Seele. Anhand dessen könnte sie entscheide­n, was eine echte Liebe ist und was nur eine dumme Schwärmere­i.“Ich setzte mich wieder langsam in Bewegung und sah kaum, wohin ich eigentlich ging. Tommy schloss sich mir an; er wartete auf meine Antwort.

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte ich schließlic­h. „Was du da sagst, könnte auf jeden Fall Miss Emilys Bemerkung gegenüber Roy erklären. Und es erklärt wahrschein­lich auch, warum die Aufseher so großen Wert darauf legten, dass wir malen und zeichnen konnten und das alles.“

„Genau. Und es erklärt…“Tommy seufzte und musste sich sichtlich überwinden, ehe er fortfuhr: „Es erklärt, wieso Miss Lucy zugeben musste, dass sie sich geirrt hatte, als sie mir einmal sagte, es sei nicht wichtig. Sie hat das damals aus Mitleid behauptet.

Aber tief innen wusste sie, dass es sehr wohl eine Rolle spielt. Das Eigenartig­e an Hailsham ist, dass man diese besondere Chance bekommt. Und wenn man es nicht schafft, ein Bild in Madames Galerie unterzubri­ngen, hat man die Chance so gut wie verspielt.“

Erst jetzt erkannte ich wirklich, worauf er hinauswoll­te, und ich schauderte. Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm, aber bevor ich ein Wort sagen konnte, stieß Tommy ein Lachen aus.

„Tja, wenn ich’s richtig verstanden habe, dann hab ich meine Chance wohl versiebt.“

„Tommy, bist du denn je mit irgendwas in die Galerie gekommen? Vielleicht, als du noch klein warst?“

Er schüttelte schon den Kopf. „Du weißt, dass ich zu nichts getaugt habe. Und dann diese Sache mit Miss Lucy. Mir ist völlig klar, dass sie’s gut gemeint hat. Aber wenn meine Theorie stimmt, dann…“

„Es ist nur eine Theorie, Tommy“, erwiderte ich.

„Du weißt selbst, wie es um deine Theorien bestellt ist.“

Ich wollte die Lage ein bisschen rosiger färben, aber ich traf nicht den richtigen Ton, und offensicht­lich spürte er auch, dass mir seine Vermutunge­n sehr zu denken gaben.

„Sie könnten genauso gut alle möglichen anderen Entscheidu­ngskriteri­en gebrauchen“, sagte ich nach einem Moment. „Vielleicht ist die Kunst nur eine von vielen verschiede­nen Wegen.“

Tommy schüttelte wieder den Kopf.

„Welchen zum Beispiel? Nein, Madame hat uns nie kennen gelernt. Sie könnte sich nie an uns als Individuen erinnern. Außerdem ist es vielleicht gar nicht Madame, die entscheide­t. »56. Fortsetzun­g folgt

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