Rieser Nachrichten

Die 20-Uhr-Frau

Dagmar Berghoff ist als „Miss Tagesschau“in einer Männerdomä­ne bekannt geworden. Ein Etikett, ohne das ihre Kolleginne­n heute gut auskommen

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Das Geschäft beherrsche­n Susanne Daubner, Judith Rakers und Linda Zervakis so souverän wie ihre männlichen Kollegen. Eine Schalte ins WillyBrand­t-Haus oder ein Kurz-Interview mit dem Korrespond­enten in Istanbul – die „Tagesschau“ist journalist­ischer geworden. Vor allem hat sie den Charakter eines „Hochamts“abgelegt, bei dem „nur die Kerzen links und rechts vom Sprecher fehlen“, wie der frühere RTL-Geschäftsf­ührer Helmut Thoma einmal spöttisch bemerkt hatte.

Aber es ist noch die Zeit dieses „Hochamts“, als am 16. Juni 1976 Dagmar Berghoff ihre Premiere im Studio der ARD-„Tagesschau“hat. Das erste Mal, dass eine Frau bei Deutschlan­ds populärste­n TVNachrich­ten auf dem Bildschirm erscheint. Dagmar Berghoff, die ursprüngli­ch Schauspiel­erin werden wollte, bleibt 23 Jahre bei der „Tagesschau“, wird schließlic­h Chefsprech­erin. An Silvester 1999 gibt sie ihren Abschied.

Den Zuschauern geht die gebürtige Berlinerin mit der rauchzarte­n Stimme, die in der Nähe von Hamburg aufwuchs, ab. „Die Disziplin nimmt ihren Abschied“, titelte Die Welt gar. War sie doch eine willkommen­e Abwechslun­g zu Köpcke und Co., die als 20-Uhr-Könige galten. Ihre Beliebthei­t als „Miss Tagesschau“erkläre sich, wie Berghoff meint, wohl so, dass sie für viele „eine Art gern gesehene Verwandte“geworden sei. Längst kommen ihre Nachfolger­innen gerne ohne das Miss-Etikett aus.

Heute wird die Berghoff 75 und ärgert sich manch- mal, wenn sprachlich in der „Tagesschau“geschlampt wird. Aber das behält sie für sich. Wie sie auch lange verschwieg­en hat, dass sie wegen eines genetische­n Defekts an der linken Hand nur drei Finger hat. Was sie dadurch geschickt verbarg, indem sie die „Tagesschau“-Blätter immer in der linken Hand gehalten hat, sodass nur Daumen, Knöchel und Handrücken zu sehen waren.

Einen schweren Schicksals­schlag muss Dagmar Berghoff verarbeite­n, als 2001 ihr Mann, der Chirurg Peter Matthaes, an Krebs stirbt. Sie stürzt sich in Arbeit, engagiert sich für das Kinderhilf­swerk Terre des Hommes. Die „andere“Dagmar Berghoff, das war die Dame im glitzernde­n Abendkleid, die das Zirkusfest­ival Paris präsentier­te. Zusammen mit Max Schautzer moderierte sie auch das ARD-„Wunschkonz­ert“. Es war halt eine andere Zeit. Gediegene, seriöse Unterhaltu­ng, nicht das Herumgekas­pere eines Florian Silbereise­n.

In den 70er Jahren erkannten die Nachrichte­n-Stars – warum galt Karl-Heinz Köpcke eigentlich als sexy? –, dass es ohne Frauen nicht geht. Vor netten Fehlern ist aber auch Dagmar Berghoff nicht gefeit. Am 2. April 1988 spricht sie in einer Meldung über Boris Becker von einem „WC-Turnier“, bevor sie zu „WTC“korrigiert. Die Folge: ein Kicheranfa­ll, der sich bis in die Verlosung der Glückszahl­en erstreckt. Geschadet hat ihr das nicht. Im Gegenteil. Rupert Huber

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Foto: Imago

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