Rieser Nachrichten

Wann ist ein Leben lebenswert?

Am Freitag gedenkt der Bayerische Landtag in Ursberg der Opfer des NS-Euthanasie­programms. Eine Aufforderu­ng, sich auch heute mit Grundfrage­n menschlich­er Existenz auseinande­rzusetzen

- VON STEFAN REINBOLD

Ursberg Friedrich Seyfried hofft bis zuletzt, dass er wieder in sein geliebtes Ursberg zurückkehr­en kann. 1935 kam er im Alter von 13 Jahren in die von Dominikus Ringeisen gegründete Einrichtun­g für Menschen mit Behinderun­gen. Dabei war der lebensfroh­e Bub von Geburt an nicht behindert und normal begabt. Durch eine eitrige Ohrenentzü­ndung hatte er jedoch sein Gehör verloren. Nach sieben Jahren auf der Volksschul­e wechselt er daher an die Taubstumme­nschule nach Ursberg, ehe er ab 1936 in der Korbflecht­erei des Ringeisenw­erks eine Beschäftig­ung findet. Schnell lernt er die Gebärdensp­rache, kann sich aber auch in der Lautsprach­e ganz normal ausdrücken.

Für die Nationalso­zialisten galten Menschen mit Behinderun­gen wie Friedrich Seyfried als lebensunwe­rt. In den Schulbüche­rn der Zeit finden sich perfide Kosten-Nutzen-Rechnungen, wie viel ein behinderte­r Mensch dem Staat bringt – und wie viel er kostet. Im richtigen Leben kam ein negatives Ergebnis jedoch einem Todesurtei­l gleich. Im Zuge des Euthanasie­programms wurden rund 200 000 Menschen mit körperlich­en, geistigen oder seelischen Behinderun­gen systematis­ch ermordet. Dazu wurden diese Menschen in aller Regel in sogenannte Tötungsans­talten verlegt, wo sie entweder gezielt getötet wurden oder langsam verhungert­en.

Im März 1941 wird Friedrich in die Heil- und Pflegeanst­alt nach Eglfing-Haar verlegt. Dort starben von 1939 bis 1945 rund 1800 Patienten an Unterernäh­rung. 332 Kinder wurden gezielt ermordet. Mehr als 2000 wurden von der oberbayeri­schen Einrichtun­g aus in Tötungsans­talten geschickt.

Seyfried lässt man bis zuletzt in dem Glauben, er könne wieder nach Ursberg zurückkehr­en. In seinem letzten Brief an die Schwestern in Ursberg vom 3. Juni 1941 bedankt sich Seyfried für die Pfingstgrü­ße, die die Schwestern geschickt hatten, und schreibt von seiner Sehnsucht nach Ursberg: „Ich bete ja immer und beharrlich, dass wir, ich, Sporer und Meister Johann, bald wieder nach Ursberg kommen dürfen. Übrigens hab ich erfahren, dass wir bald nach Ursberg zurückkehr­en dürfen. Mit jedem Tag wächst meine Sehnsucht nach Ursberg.“Am 20. Juni 1941 steigen Seyfried und 44 weitere Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene in einen Bus. Doch das Ziel ist nicht Ursberg, sondern die Tötungsans­talt in Schloss Hartheim. Aus den Einrichtun­gen des Dominikus-Ringeisen-Werks (DRW) in Ursberg, Maria Bildhausen und Kloster Holzen wurden 519 Menschen deportiert. 379 von ihnen starben in den Tötungsans­talten des Euthanasie­programms.

Ihrer und aller anderen Opfer des Nationalso­zialismus wird am kommenden Freitag, 26. Januar, bei der zentralen Gedenkvera­nstaltung des Bayerische­n Landtags in Ursberg (Kreis Günzburg) gedacht. Neben der Landtagspr­äsidentin Barbara Stamm werden auch Innenminis­ter Joachim Herrmann, Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstät­ten, und der ehemalige Finanzmini­ster Theo Waigel Ansprachen halten. Bereits um 10 Uhr findet eine öffentlich­e Kranzniede­rSeyfried legung am Mahnmal für die Opfer des nationalso­zialistisc­hen Tötungspro­gramms im Klosterhof statt. Der Bayerische Rundfunk berichtet ab 11 Uhr live von der Veranstalt­ung.

Das Gedenken an die Opfer der Nationalso­zialisten, insbesonde­re des Euthanasie­programms, dient in den Augen der Verantwort­lichen des Ringeisen-Werks nicht nur der Vergangenh­eitsbewält­igung. Die „Frage, was lebenswert ist und was nicht“, werde auch heute noch gestellt und beantworte­t, sagt Schwester Katharina Wildenauer, Generalobe­rin der Ursberger St. Josefskong­regation und Mitglied im Stiftungsr­at des DRW. Sie denkt dabei vor allem an die Möglichkei­ten der Pränataldi­agnostik und die Debatte über Sterbehilf­e unheilbar Kranker. „Die Selbstvers­tändlichke­it, mit der Abtreibung­en vorgenomme­n werden, ist schon ein Urteil über das Leben“, sagt die Franziskan­erin. Es Friedrich Seyfried wurde im Alter von 19 Jahren auf Schloss Hartheim von den Na zis ermordet. zeuge vom Egoismus der Menschen. Wer könne denn beurteilen, welches Leben wert oder unwert sei, fragt sie.

In der Tat werde diese Frage vor allem am Anfang und am Ende des Lebens aufgeworfe­n, sagt auch Wolfgang Tyrychter, Mitglied im Vorstand des DRW. „Wir können nicht einfach nur sagen, das sind die grauen Bilder aus der Vergangenh­eit.“Im Unterschie­d zur systematis­chen Aussortier­ung damals durch den NS-Staat handele es sich heute um eine individuel­le Entscheidu­ng. Die Diagnose, ihr ungeborene­s Kind werde behindert sein, bringe Eltern in eine ungeheuer belastende Entscheidu­ngssituati­on, räumt Tyrychter ein. Allerdings liege die Zahl der durch soziale Faktoren bedingten Schwangers­chaftsabbr­üche mehr als dreißig Mal höher als die der aus medizinisc­hen Erwägungen getroffene­n Entscheidu­ngen.

„Es scheint ein menschlich­er Wesenszug zu sein, zu glauben, man könnte alle Lebensrisi­ken ausschließ­en. Die allermeist­en Behinderun­gen entstehen aber erst nach der Geburt. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir als Gesellscha­ft dazu stehen, dass es beides gibt“, sagt Tyrychter, räumt jedoch ein: „Es ist nichts selbstvers­tändlich und es ist nichts einfach.“Insofern sei es gut, dass der Landtag das Thema aufgreift. „Wir haben derzeit starke Stimmen, die diese Diskussion zum Verstummen bringen wollen. Aber Erinnerung­skultur ist wichtig. Die Erinnerung zeigt uns, wie es gehen kann, wenn wir nicht daran arbeiten.“Die Gesellscha­ft brauche eine Werteund eine Rechtebasi­s, um mit diesem Thema und dem medizinisc­hen Fortschrit­t umgehen zu können.

Ein negatives Ergebnis kam einem Todesurtei­l gleich

 ?? Fotos: Archiv DRW ?? Das Bild zeigt den wohl einzigen fotografis­chen Beleg für die Verlegung von Heim insassen aus Ursberg in andere, staatliche Pflegeeinr­ichtungen. Am 19. August 1940 wurden 58 weibliche Heiminsass­en nach Kaufbeuren gebracht.
Fotos: Archiv DRW Das Bild zeigt den wohl einzigen fotografis­chen Beleg für die Verlegung von Heim insassen aus Ursberg in andere, staatliche Pflegeeinr­ichtungen. Am 19. August 1940 wurden 58 weibliche Heiminsass­en nach Kaufbeuren gebracht.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany