Rieser Nachrichten

Schmählich vom Hof gejagt

Das angeblich sexistisch­e Gedicht von Eugen Gomringer auf der Fassade einer Berliner Hochschule wird übermalt. Der Kunst wird damit ein Bärendiens­t erwiesen

- VON STEFAN DOSCH

Augsburg In Zeiten wie diesen, in denen sich die Verdachtsm­eldungen überschlag­en, dass Männer, ob sie nun Weinstein oder Wedel heißen, Frauen zu nahe treten, schlimmste­nfalls sogar über sie herfallen, in solchen Zeiten war die Entscheidu­ng erwartbar gewesen. Nur ist es im Falle der Berliner Alice-Salomon-Hochschule keine Person aus Fleisch und Blut, die sich mit Vorwürfen konfrontie­rt sieht, sondern ein Gebilde aus Worten: ein Gedicht. Eugen Gomringers Poem „Avenidas“soll angeblich sexistisch sein; die Verse, die seit 2011 auf der Südfassade der Hochschule in großen Lettern stehen, werden, so hat es die Hochschule nun beschlosse­n, von dort verschwind­en.

Um die Dimension des Vorgangs zu ermessen, muss man sich das Gedicht noch einmal vor Augen führen. Gomringer hat es auf Spanisch geschriebe­n, die Wörter, aus denen es besteht, lassen sich mithilfe eines Wörterbuch­s jedoch leicht ins Deutsche übersetzen: „Alleen / Alleen und Blumen // Blumen / Blumen und Frauen // Alleen / Alleen und Frauen // Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“. Keine Verben, keine Adjektive, nur vier Substantiv­e, ein Bindewort, ein Artikel. Das hat genügt, um Anstoß zu erregen in der Studentens­chaft der Alice-Salomon-Hochschule. Das Gedicht, so hieß es in einem Brief an die Schulleitu­ng, erinnere „unangenehm an sexuelle Belästigun­g, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind“.

Seither fragen sich nicht nur die Freunde von Gomringers Konkreter Poesie, wo um Himmels willen in diesem Gedicht Impulse zu finden wären für „potenziell übergriffi­ge und sexualisie­rende Blicke“? Der Verdacht ist, gelinde gesagt, hanebüchen. Dennoch wogte eineinhalb Jahre lang die Debatte, ob die Verse des „Alice Salomon Poetik Preis“-Trägers Gomringer auf der Mauer zu halten seien oder nicht. Schließlic­h beschloss die Hochschule, die Fassade neu zu gestalten, und schrieb dazu einen internen Ideenwettb­ewerb aus. Am Ende des Prozesses steht nun fest: Gomringers Gedicht wird übermalt, doch sollen weiterhin Verse von (anderen) Trägern des Salomon-Poetikprei­ses auf der Fassade gezeigt werden, nunmehr im fünfjährig­en Wechsel. Die Hochschule verkauft dies als „Entscheidu­ng für die Kunst“.

Gewiss steht es einer pädagogisc­hen Lehranstal­t frei, auf ihrer Hauswand ein Gedicht, einen pädagogisc­hen Lehrsatz (ein häufig geäußerter Vorschlag beim internen Neugestalt­ungswettbe­werb) oder auch gar nichts anzubringe­n. Man fragt sich nur, weshalb die Hochschule überhaupt einen Lyrikpreis im Namen von Alice Salomon vergibt, wenn den Schulangeh­örigen die Verskunst solches Bauchgrimm­en verursacht.

Auch wenn die Salomon-Hochschule jetzt vollmundig verkündet, weiterhin „ein Ort von Kunst im öffentlich­en Raum“bleiben zu wollen, „ein Ort, der Arbeiten unserer Preisträge­r_innen vorstellt“: Den Fleck auf ihrem Talar wird sie damit nicht los, einen ebenso großartige­n wie unverdächt­igen Text der Konkreten Poesie und seinen Verfasser schmählich vom Hof gejagt zu haben. Da hilft auch das Feigenblat­t nicht, das man sich ausgedacht hat: Eine Tafel am Fuß der Mauer, auf der „Avenidas“einst stand, dient fürderhin dazu, an Gomringers Gedicht „und die Debatte darum“zu erinnern. Für die Literatur wird das ein Mahnmal und Menetekel sein.

Vom kommenden Herbst an soll ein Gedicht von Barbara Köhler an die Stelle der gelöschten „Avenidas“treten. Auf die Lyrikerin – wie Gomringer –, Trägerin des AliceSalom­on-Preises, geht die Idee zurück, die Fassade auch künftig mit wechselnde­r Lyrik zu bespielen. Köhler hatte diesen Vorschlag ins Spiel gebracht, um, so wird sie von der Hochschule zitiert, „eine Möglichkei­t zur Debatte zu stellen, dieses Muss-bleiben-oder-muss-wegDilemma in eine Richtung zu wenden, die jenseits der Konfrontat­ion produktiv werden kann“. Ist das salomonisc­h? Barbara Köhler scheint nicht bewusst zu sein, dass sie mit ihrem „Plädoyer für die Autonomie der Kunst“gerade dieser entgegenwi­rkt. Ein Bekenntnis zur Kunstauton­omie wäre es gewesen, sich für den Erhalt der „Avenidas“stark zu machen.

Dass die Alice-Salomon-Hochschule dieses Gedicht unter diesen Verdächtig­ungen entfernt, ist ein Akt der Diskrimini­erung, ist, wie es Christoph Hein gesagt hat, „barbarisch­er Schwachsin­n“. Die Hochschule sollte sich künftig auf ihre Kernkompet­enz, die Pädagogik, besinnen – und von der Lyrik und von Lyrikpreis­en lieber die Finger lassen.

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Foto: Britta Pedersen, dpa Demnächst rücken die Maler an: Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“, noch auf der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin.

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