Rieser Nachrichten

Diese entsetzten Blicke

Achtung: Julia Roberts! Obacht: Rührstück? Ihr Sohn trägt am liebsten einen Astronaute­nhelm, denn sein Gesicht ist entstellt. Eine Geschichte über Scham, das Gute und das Schlechte im Menschen – als Roman ein Welterfolg

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Ich weiß, dass ich kein gewöhnlich­er Zehnjährig­er bin“, sagt Auggie (Jacob Tremblay) zu Beginn des Films. Der Junge trägt einen Astronaute­nhelm über dem Kopf und als er ihn abnimmt, ist klar, wovon er spricht. Aufgrund eines genetische­n Defektes ist Auggies Gesicht deformiert. Lange Narben gehen die Wangen hinunter, die Nase ist platt, die Ohren krumm und schief, die Augen haben eine tränenarti­ge Form. Ganze 27 Operatione­n hat er seit seiner Geburt hinter sich gebracht, um selbststän­dig atmen, sehen und hören zu können.

Wie Trophäen hängen die Krankenhau­sbänder in einem Bilderrahm­en an der Wand. Zur Schule ist Auggie nie gegangen. Seine Mutter Isabel (Julia Roberts) hat ihn bisher zuhause unterricht­et. Aber nun soll das Kind zu Beginn der fünften Klasse eine reguläre Schule besu- chen. Als er den Schulhof betritt starren ihn alle an. Langsam fährt die Kamera an den entsetzten Gesichtern entlang. Es kostet viel Kraft, solche Blicke auszuhalte­n.

Die Eingewöhnu­ng in ein öffentlich­es Dasein fällt Auggie schwer. Es ist nicht nur das peinlich berührte Abwenden und Getuschel. Manche Mitschüler sehen in ihm ein ideales Mobbing-Opfer und im Sportunter­richt wird er von allen Seiten mit Bällen beworfen. Selbst Jack (Noah Jupe), der sich unvoreinge­nommen mit ihm angefreund­et hat, wendet sich unter dem sozialen Druck von ihm ab.

Auggies Familie hingegen ist für den Jungen ein Hort der Geborgenhe­it. Mutter und Vater (Owen Wilson) stehen ihm mit gar nicht mal so unklugen Ratschläge­n zur Seite genauso wie seine ältere Schwester. „Auggie ist wie die Sonne“, sagt Via (Izabela Vidovic), „alle in der Fami- lie kreisen nur um ihn.“Grund genug für Regisseur Stephen Chbosky, der hier dem Jugendroma­n von R. J. Palacio folgt, es ihnen nicht gleich zu tun. Aus vier verschiede­nen Perspektiv­en blickt der Film auf Auggie und sein soziales Umfeld.

Der zweite Teil des Filmes gehört Via, die es als große Schwester gewohnt ist, nur wenig familiäre Aufmerksam­keit zu bekommen. Das hat sie bisher mit einer gewissen Traurigkei­t, aber ohne Verbitteru­ng ertragen. Als ihre beste Freundin Miranda (Danielle Rose Russell) sich nach dem Sommercamp einer neuen Clique zuwendet, fühlt sich Via verloren. Aber gerade diese Verlorenhe­it treibt sie in einen Theaterkur­s und in ihre erste Liebe hinein. In zwei weiteren Teilen wird der Blick noch weiter geöffnet und die Sicht der beiden vermeintli­chen Verräterfi­guren Miranda und Jack eingenomme­n.

Diese multipersp­ektivische Erzählweis­e erweitert das Empathieko­nzept des Filmes und holt seine Hauptfigur Auggie aus der Opferecke heraus. Das bewahrt den Film vor jener schrecklic­hen Rührseligk­eit, mit der man eine solche Geschichte normalerwe­ise in Hollywood erzählen würde. Dennoch bleibt hier kein Auge trocken, wenn Auggie seinen Weg zur schulgesel­lschaftlic­hen Anerkennun­g findet.

Etwas zu deutlich formt Regisseur Chbosky, der sich mit „Vielleicht lieber morgen“(2012) als sensibler Independen­t-Filmer profiliert hat, seine Botschaft von Mitgefühl und Freundlich­keit aus, die nicht nur für Auggie den Weg zur Glückselig­keit ebnet. In seinen Figurenzei­chnungen hingegen beweist der Film eine überzeugen­de Integrität, weil er das Gute im Menschen mit all seiner Fehlerhaft­igkeit herausarbe­itet, ohne daraus aufwendige Katharsisp­rozesse ableiten zu müssen.

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Foto: Dale Robinette, Studiocana­l Trotz aller Narben weiß August „Auggie“Pullman (Jacob Tremblay) seine Mama Isabel (Julia Roberts) immer an seiner Seite.
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