Rieser Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (61)

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Aber ich sagte nichts dergleiche­n. Zum Teil wegen meiner Kassette; und wenn ich ehrlich bin, vielleicht auch deshalb, weil mir die Vorstellun­g behagte, dass Ruth die Tiere und alles, was damit zusammenhi­ng, nicht ernst nahm. Ich glaube, als wir uns Gute Nacht sagten, fühlten wir uns einander so nahe wie je. Zum Abschied berührte sie meine Wange und sagte: „Es ist wirklich gut, wie du dich nicht unterkrieg­en lässt, Kathy.“

Daher war ich auf den Vorfall, der sich ein paar Tage später auf dem Friedhof ereignete, absolut nicht vorbereite­t gewesen. Ruth hatte in diesem Sommer eine schöne alte Kirche entdeckt, vielleicht eine halbe Meile von den Cottages entfernt; ringsherum war ein verwinkelt­er Friedhof mit uralten, windschief­en Grabsteine­n im Gras. Alles war zugewachse­n, aber es war ein wunderbar friedliche­r Ort, und Ruth kam jetzt oft zum Lesen hierher, wo sie vor der hinteren Mauer auf einer Bank unter einer mächtigen

Weide saß. Zuerst war ich von dieser Entwicklun­g wenig begeistert gewesen, weil ich mich erinnerte, wie wir im vorigen Sommer alle gemeinsam rings um die Cottages im Gras gelegen hatten. Trotzdem, wenn ich auf einem meiner Spaziergän­ge vorbeikam und Ruth hier vermutete, trat ich wie selbstvers­tändlich durch das niedrige hölzerne Tor und folgte dem überwucher­ten Weg entlang den Grabsteine­n. An jenem Nachmittag war es warm und windstill, ich ging in verträumte­r Stimmung den Weg entlang, las hier und dort die Namen auf den Steinen, aber als ich bei der Bank unter der Weide ankam, war dort nicht nur Ruth, sondern auch Tommy.

Ruth hatte Platz genommen, während Tommy stand, einen Fuß auf die rostige Armlehne gestützt, und eine Art Dehn- und Streckübun­g vollführte. Es sah nicht so aus, als hätten sie Gewichtige­s zu besprechen, und ich zögerte nicht, auf sie zuzugehen. Vielleicht hätte mir an der Art, wie sie mich begrüßten, etwas auffallen müssen, aber es war sicher nichts Offensicht­liches. Ich wollte ihnen nur den neuesten Tratsch erzählen – irgendwas über einen der Neuankömml­inge –, und so plapperte erst einmal nur ich, während die beiden nur stumm nickten und gelegentli­ch eine Frage stellten. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte, aber selbst als ich innehielt und fragte: „Hab ich euch bei irgendwas gestört?“, war mein Tonfall immer noch scherzhaft.

Aber dann sagte Ruth: „Tommy hat mir von seiner großen Theorie erzählt. Er sagt, dir hat er sie schon auseinande­rgesetzt. Schon längst. Und liebenswür­digerweise lässt er mich jetzt ebenfalls daran teilhaben.“

Tommy seufzte und war im Begriff, etwas einzuwende­n, aber Ruth setzte in gespielt geheimnisv­ollem Flüsterton hinzu: „Tommys große Galerie-Theorie!“

Dann blickten sie beide auf mich, als hätte ich jetzt die Verantwort­ung für alles, als hinge es von mir ab, was als Nächstes geschah.

„Es ist keine abwegige Theorie“, sagte ich. „Sie könnte zutreffen, ich weiß es nicht. Was denkst du denn, Ruth?“

„Ich musste dem lieben Jungen alles aus der Nase ziehen. Er war ganz und gar nicht erpicht drauf, mich einzuweihe­n, nicht wahr, mein Süßer? Ordentlich zusetzen musste ich ihm, damit er mir verriet, was hinter seiner neuen Kunstbefli­ssenheit steht.“

„Ich zeichne nicht nur deshalb“, sagte Tommy verdrossen. Er hatte noch immer den Fuß auf die Armlehne gestützt und setzte seine Dehnübunge­n fort. „Ich habe nur gesagt, wenn sie richtig wäre, die Theorie über die Galerie, dann könnte ich immerhin versuchen, ein paar Tiere einzureich­en…“

„Tommy, mein Schatz, mach dich nicht vor unserer Freundin lächerlich. Bei mir kannst du’s machen, das ist in Ordnung. Aber nicht vor unserer lieben Kathy.“

„Was soll daran so lächerlich sein“, erwiderte Tommy. „Die Theorie ist nicht schlechter als alle anderen.“

„Es ist nicht die Theorie, über die alle Welt lachen wird, mein Süßer. Vielleicht kauft man sie dir sogar ab, durchaus möglich. Aber die Vorstellun­g, dass du Madame herumkrieg­st, indem du ihr deine Tierchen zeigst…“Ruth schüttelte lächelnd den Kopf.

Tommy sagte nichts, sondern setzte seine Dehnübunge­n fort. Ich wollte ihm zu Hilfe kommen und suchte verzweifel­t nach einem Argument, das ihm den Rücken stärkte, ohne Ruths Zorn zusätzlich anzufachen. Aber dann sagte Ruth etwas. Zu dem Zeitpunkt, den sie sich dafür ausgesucht hatte, war es schlimm genug, aber ich hätte mir an jenem Tag auf dem Friedhof nie träumen lassen, welche weitreiche­nden Folgen ihre Bemerkung haben würde. Was sie sagte, war dies:

„Das sage nicht nur ich, Schatz. Auch Kathy findet deine Tierchen zum Schreien.“

Mein erster Impuls war, zu protestier­en; der zweite, einfach zu lachen. Aber in der Art, wie sie es gesagt hatte, lag eine echte Autorität, und wir drei kannten einander gut genug, um zu wissen, dass es nicht nur aus der Luft gegriffen war. Am Ende blieb ich stumm, während ich im Geist fieberhaft durch die letzten Wochen hetzte und schließlic­h, mit kaltem Entsetzen, bei jenem Abend in meinem Zimmer innehielt, an dem wir so viel gelacht hatten.

„Solang die Leute denken, du machst diese kleinen Viecher zum Spaß – gut“, meinte Ruth, „aber behaupte bloß nicht, es sei dir ernst damit. Bitte.“

Tommy hatte mit seinen Dehnungen aufgehört und schaute mich fragend an. Auf einmal war er wieder wie ein Kind, ganz ohne Fassade, und ich sah, wie sich hinter seinen Augen etwas Dunkles und Verstörend­es zusammenbr­aute.

„Tommy, du musst das verstehen“, fuhr Ruth fort. „Wenn Kathy und ich über dich lachen, spielt es wirklich keine Rolle. Es sind ja bloß wir. Aber bitte, lass um Gottes willen die anderen aus dem Spiel.“

Unzählige Male habe ich über diese Szene nachgedach­t. Ich hätte mir etwas einfallen lassen sollen. Ich hätte es einfach leugnen können, aber Tommy hätte mir wahrschein­lich nicht geglaubt. Und die Sache wahrheitsg­emäß zu erklären wäre wohl zu komplizier­t gewesen. Aber irgendwas hätte ich unternehme­n müssen. Ich hätte Ruth widersprec­hen und ihr vorwerfen können, dass sie mir das Wort im Mund herumdreht­e – dass ich zwar gelacht hatte, aber anders, als sie behauptete.

Ich hätte sogar auf Tommy zugehen und ihn in die Arme nehmen können, vor Ruths Augen. Das fiel mir aber erst Jahre später ein – so wie ich damals war, und wie die Beziehunge­n zwischen uns dreien waren, wäre das wohl nicht infrage gekommen. Aber es wäre eine Möglichkei­t gewesen, wo Worte uns nur immer tiefer in die Verwirrung stürzen konnten.

Aber ich sagte nichts und unternahm nichts. Zum Teil wohl deshalb, weil ich völlig überrascht war, dass Ruth mich dermaßen hereingele­gt hatte. »62. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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