„Ich finde Mertesacker mutig“
Der ehemalige Fußball-Nationalspieler hat mit seinen Aussagen über Druck unter dem er gelitten hat, eine Debatte ausgelöst. Was der Sportpsychologe Oliver Stoll davon hält
Der frühere Nationalspieler Per Mertesacker hat in einem Spiegel-Interview erzählt, welchen Druck Profifußballer erleben und wie er selbst darunter gelitten hat. Er berichtet von Magenschmerzen, Durchfall und Brechreiz. Überrascht Sie das?
Stoll: Ich wusste, dass es so etwas imLeistungssport gibt. Was Mertesacker betrifft, habe ich mich nicht gewundert. Er ist kein Nationalspieler mehr und damit raus. Er kann so etwas jetzt sagen. Andere werden vorsichtiger sein.
Mertesacker beklagt den Druck, den er verspürt hat. Den haben Krankenschwestern, Fließbandarbeiter und Handwerker auch. Was ist daran besonders?
Stoll: Natürlich kann man Mertesackers Aussagen als Jammern auf hohem Niveau betrachten. Er wurde schließlich nicht gezwungen, Fußballprofi zu sein. Andererseits hat er auch betont, dass er nur schildern wollte, welche Probleme er persönlich damit hatte.
Damit hat er nicht nur Kritik von Lothar Matthäus geerntet, der kein Verständnis für seinen ehemaligen Teamkollegen geäußert hat. Wie werten Sie Mertesackers Verhalten?
Stoll: Ich finde seine Aussagen mutig. Er hat offenbart, dass der Fußball nicht nur glorreiche, sondern auch dunkle Seiten hat.
Noch einmal zum Druck. Was genau meint Mertesacker damit?
Stoll: Was Mertesacker betrifft, kann ich da nur spekulieren. Ich hatte aber mit vielen Athleten zu tun, die Ähnliches erzählt haben. Andererseits gab es auch den Wasserspringer, der bei Olympischen Spielen auf den Turm gestiegen und dann locker wie im Training gesprungen ist. Sportlerkarrieren sind sehr individuell. Grundsätzlich erlebt jemand Druck, wenn Optima abzurufen und Erwartungshaltungen vorhanden sind. Wer sich dann nicht sicher ist, das alles zu erfüllen, empfindet das als Bedrohung und erlebt Stress.
Im Fall Mertesacker ging das offenbar soweit, dass er bei der WM 2006 in Deutschland über das deutsche Ausscheiden erleichtert war. Können Sie das nachvollziehen?
Stoll: Das hat mir zu denken gegeben. Eine WM ist schließlich das Höchste für einen Fußballer. Die deutsche Mannschaft stand vor dem Finale. Ich kenne keinen Athleten, der sich ähnlich geäußert hat. wirtschaftliches und gesellschaftliches Sein ist geprägt vom Funktionieren, Optimieren und der perfekten Performance. Im Leistungssport werden diese Faktoren mitunter pervertiert...
Stoll: Wären Athleten nicht perfektionistisch, stünden sie nicht da, wo sie stehen. Gleichzeitig potenziert sich dieser Perfektionismus im Leistungssport, wenn Athleten ihre hohen, eigenen Ansprüche nicht umsetzen können. Das schafft Probleme und ist wie ein Gift. Wichtig ist, dass der Sportler lernt mit diesen negativen Emotionen umzugehen.
Die meisten Profivereine haben das inzwischen erkannt. Sie beschäftigen Sportpsychologen. Wie hat sich deren Position, nachdem sie anfangs eher belächelt waren, entwickelt?
Stoll: Mertesacker selbst ist da ein typisches Beispiel. Er selbst hat keine Hilfe in Anspruch genommen, obwohl es in der Nationalmannschaft schon lange einen Psychologen gibt. Das Problem dabei: Der Psychologe arbeitet mit dem Trainer zusammen. Wie kann sich da ein Spieler offen äußern. Es müsste also mindesten zwei Psychologen geben. Einen, der sich um teaminterne Dinge kümmert und Teil des Systems ist und darin auch kommuniziert und einen anderen, der außerhalb des Systems agiert und gegenüber dem Trainer eine Schweigepflicht hat.
Wie offen sind Trainer?
Stoll: Inzwischen lassen viele Bundesligaklubs auch ihre Nachwuchsspieler psychologisch betreuen. Der Deutsche Fußball-Bund hat mit seinen zertifizierten Nachwuchsleitungszentren vorbildliche Strukturen geschaffen. Das beeinflusst auch die Einstellung der Trainer. Aber noch sind nicht alle aufgeschlossen. Ich wurde einmal vom Cheftrainer eines Bundesligaklubs gebeten, ein sportpsychologisches Konzept zu erstellen. Es kam beim Trainer und im Vorstand gut an. Nach vier Woche wurde der Trainer entlassen. Sein Nachfolger war an Psychologie nicht interessiert.
Lassen Sie mich raten: Der NachfolUnser ger war entweder Otto Rehhagel oder Felix Magath?
Stoll: (lacht) Das möchte ich nicht verraten.
Per Mertesacker wird nach dem Ende seiner Spielerkarriere Leiter des Nachwuchsleistungszentrum des FC Arsenal. Hat er sich mit diesem Interview geschadet?
Stoll: Im Gegenteil. Er hat sich damit qualifiziert, weil es zeigt dass er reflektiert und empathisch ist. Über seins sportlichen Kompetenzen muss man nicht reden.
● Prof. Dr. Oli
ver Stoll, 55, ist Sportwissen schaftler und Sportpsychologe an der Uni Hal le. Er entwickelte den ersten uni versitären Masters Studiengang in Sportpsychologie in Deutschland.