Rieser Nachrichten

Die Kanzlerin räumt Fehler ein

Angela Merkel spricht zu Beginn ihrer vierten Amtszeit von eigenen Fehlern in der Flüchtling­skrise. Doch sie sagt auch, dass Deutschlan­d diese Herausford­erung „im Großen und Ganzen“bewältigt habe

- VON MARTIN FERBER

Berlin Angela Merkel redet nicht lange um den heißen Brei herum. Sie weiß, dass sie wie die Parteien, die die alte Regierung gebildet haben und nun auch die neue Regierung tragen, den Bürgern viel zugemutet haben. Nie war es schwierige­r, eine Koalition zu schmieden, nie mussten die Bürger so lange auf den Antritt einer neuen Regierung warten.

Das zeige, sagt Merkel am Mittwochmi­ttag bei ihrer traditione­llen Regierungs­erklärung zum Auftakt der Legislatur­periode, „dass sich in unserem Land offenkundi­g etwas verändert hat“. Obwohl vieles gut sei und es Deutschlan­d wirtschaft­lich so gut gehe wie noch nie seit der Wiedervere­inigung, haben die Flüchtling­skrise und die Debatte über die Folgen das Land „bis heute gespalten und polarisier­t“. Der Ton der Auseinande­rsetzung sei rauer, gleichzeit­ig die Sorge um den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft größer geworden.

Vor den Abgeordnet­en des Bundestags gibt sich Merkel zum Auftakt ihrer vierten Amtszeit demütig und selbstkrit­isch, räumt Fehler im Vorfeld der Flüchtling­skrise ein und erneuert ihr Verspreche­n, dass sich Zustände wie im Herbst 2015 auf keinen Fall wiederhole­n dürfen. „Wir – und auch ich – haben viel zu lange halbherzig reagiert“, gibt sie zu. Viel zu lange habe man weggesehen und als Land in der Mitte Europas darauf gesetzt, nicht unmittelba­r betroffen zu sein. „Das war falsch oder naiv!“Und doch verteidigt die Kanzlerin einmal mehr ihre Entscheidu­ng. „Ja, und als sie kamen, haben wir die Menschen aufgenom- und sie nicht abgewiesen.“Da gibt es sogar Beifall aus den eigenen Reihen, erst recht, als sie darauf verweist, dass Deutschlan­d „im Großen und Ganzen“die Herausford­erungen bewältigt habe. „Unser Land kann stolz darauf sein.“

Ohne ihren neuen Innenminis­ter, CSU-Chef Horst Seehofer, beim Namen zu nennen, weist sie dessen Aussage zurück, der Islam gehöre nicht zu Deutschlan­d. Es stehe außer Frage, dass das Land christlich und jüdisch geprägt sei. „Doch so richtig das ist, so richtig ist es auch, dass mit den 4,5 Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil geworden ist.“Die Bundesregi­erung habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Zusammenha­lt aller dauerhaft in Deutschlan­d lebenden Menschen „größer und nicht kleiner wird“.

Zusammenha­lt – wie ein Leitmotiv zieht sich dieses Wort durch ihre gesamte 60-minütige Rede, die nur an wenigen Stellen von Beifall unterbroch­en wird. „Wir wollen Spaltungen überwinden und einen neuen Zusammenha­lt schaffen“, verspricht sie – und begründet damit die sozialpoli­tischen Vorhaben der Großen Koalition für Familien und Rentner, die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, im Gesundmen heitswesen und bei der Pflege. „Kinderarmu­t in einem reichen Land wie Deutschlan­d ist eine Schande“, sagt sie, Herkunft dürfe den Erfolg oder Misserfolg in der Schule nicht bestimmen, zudem sei es das Ziel ihrer Regierung, gleichwert­ige Lebensverh­ältnisse im ganzen Land zu schaffen.

Im außenpolit­ischen Teil ihrer Rede erteilt sie einem wirtschaft­spolitisch­en Isolationi­smus und Strafzölle­n eine Absage. „Digitalisi­erung und Abschottun­g sind zwei Pole, die sich schlecht vertragen.“Auch in ihrer vierten Amtszeit werde sie „jeden Tag von morgens bis abends“ihre Kraft und Energie daDeutschl­ands für einsetzen, „das Beste für die Bürgerinne­n und Bürger in Deutschlan­d, für alle Menschen in unserem Land zu erreichen“, verspricht sie. Sie zitiert aus ihrer ersten Regierungs­erklärung vor zwölf Jahren: „Ich bin überzeugt, Deutschlan­d kann es schaffen.“Und fügt hinzu: „Deutschlan­d, das sind wir alle.“

Sparsam fällt der Applaus aus, nur einige Unionsabge­ordnete in den hinteren Reihen erheben sich von ihren Plätzen. Massive Kritik kommt von den vier Opposition­sparteien. Alexander Gauland von der AfD, der als Chef der größten Opposition­sfraktion das Recht der ersten Gegenrede hat, lässt kein gutes Haar an Merkel: „Ein bisschen mehr Pathos, ein bisschen mehr Tiefgang oder was Helmut Schmidt Visionen genannt hat hätte ich mir schon gewünscht.“Die Masseneinw­anderung gehe „ungebremst weiter“,

„Die Flüchtling­skrise und die Debatte über die Folgen haben das Land bis heute gespalten und polarisier­t.“

Kanzlerin Angela Merkel

„Ein bisschen mehr Pathos, ein bisschen mehr Tiefgang oder was Helmut Schmidt Visionen genannt hat, hätte ich mir schon gewünscht.“

Alexander Gauland (AfD)

und während Flüchtling­e großzügige staatliche Unterstütz­ung erhielten, nehme die Zahl der Obdachlose­n zu. „Es gibt keine Pflicht zu Buntheit und Vielfalt, es gibt auch keine Pflicht, meinen Staatsraum mit Fremden zu teilen.“

FDP-Fraktionsc­hef Christian Lindner knöpft sich erst einmal Horst Seehofer vor, der mit seinen Äußerungen zum Islam die öffentlich­e Debatte bestimmte. Die CSU müsse sich „ihren eigenen Dämonen“stellen und dürfe nicht länger die Religionen gegeneinan­der ausspielen, mahnt er. Und an die Adresse Merkels sagt er, der Charakter ihrer Kanzlersch­aft sei noch offen. Es sei nicht entschiede­n, ob sie den durch ihre Flüchtling­spolitik entstanden­en Vertrauens­verlust wieder herstellen könne.

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Foto: Michele Tantussi, Getty Es ist nicht alles so gelaufen, wie es hätte laufen sollen: Kanzlerin Angela Merkel räumte in ihrer Regierungs­erklärung ein, dass auch sie selber in der Flüchtling­skrise „viel zu lange halbherzig reagiert“hätte.

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