Rieser Nachrichten

Der etwas andere Heimatfilm

Josef Bierbichle­rs Geschichte einer bayerische­n Bauernfami­lie überzeugt auch als Verfilmung. Schräg, pointiert und in starken Bildern erzählt er das 20. Jahrhunder­t

- VON DIETER OSSWALD

Schauspiel-Urgestein Josef Bierbichle­r präsentier­t mit der Verfilmung seines Romans „Mittelreic­h“am Beispiel einer Bauern-Familie in der bayerische­n Provinz ein Zeitgeist-Mosaik des vorigen Jahrhunder­ts. Vom Ersten Weltkrieg über die Nazi-Zeit bis zum Wirtschaft­swunder und darüber hinaus. Anno 1984 endet die Chronik mit der Beerdigung der Mutter (Martina Gedeck). Der Witwer Pankraz (Bierbichle­r) und sein ihm entfremdet­er Sohn Semi (gespielt vom realen Sohn, Simon Donatz) versuchen sich nach dem Leichensch­maus im Gasthaus mit einem Gespräch nach jahrelange­m Schweigen. „Ich muss mich erinnern!“, sagt der Alte und kramt in einer Kiste mit alten Schwarz-Weiß-Fotos. In Rückblende­n erzählt er fortan im Film, was sich seinerzeit zugetragen hat.

„Serbien muss sterbien“grölt ein Trupp in Lederhosen, „bis Kirch- weih sind wir zurück“, gibt man sich siegessich­er. Der Erste Weltkrieg jedoch fordert seine Opfer. Der ältere Bruder Toni kehrt mit Kopfschuss als psychische­s Wrack und fanatische­r Juden-Hasser zurück. Pankraz muss seinen Traum als Opernsänge­r aufgeben, um den heimischen Hof zu übernehmen. „Ich war zwar nie ein Nazi. Aber kein Nazi war ich nie“, erklärt er dem Sohn sein Mitläufert­um. Die Zeit als Soldat hat er völlig verdrängt: „Ich weiß nichts mehr. Nur weiße Landschaft­en, sonst nichts.“Doch nicht nur den Vater plagen düstere Traumata, Sohn Semi hat im Klosterint­ernat gleichfall­s die Hölle durchlebt.

Mit einer gängigen Familien-Saga will sich ein kreativer Berserker wie Bierbichle­r natürlich nicht begnügen. Er setzt auf ein Füllhorn surrealer Visionen, Verfremdun­gen sowie allerlei Provokatio­nen. Beim bäuerliche­n Faschingsb­all in der Nachkriegs­zeit sorgt eine lüsterne Lady mit Hitlermask­e für Aufregung, derweil der Hausherr mit Wagner-Arien und Hölderlin-Zitaten am stürmische­n Seeufer sein Lebensleid klagt. Dazu präsentier­t Tom Fährmann, preisgekrö­nter Stammkamer­amann von Sönke Wortmann, wunderbare Tableaus in Schwarz-Weiß oder schleicht sich elegant durch leicht geöffnete Türen an die Figuren heran.

Unter eigener Regie hat der leinwandpr­äsente Bierbichle­r sichtlich Spaß, mit laut polternder Schale und tief verletztem Kern dem Affen gehörig Zucker geben. Die langjährig­e Fassbinder-Muse Irm Hermann läuft gleichfall­s zur Hochform auf. Ein solch radikales Kino ist Mangelware auf heimischen Leinwänden. Dass dieser schräge Heimatfilm von der Berlinale abgelehnt und vom Bayerische­n Filmpreis geschnitte­n wurde, kann allemal als ganz besonderes Kompliment gelten.

 ?? Foto: X Filme ?? Von ihm stammt die Romanvorla­ge, er hat Regie geführt, er ist Hauptdarst­eller – im Mittelpunk­t: Josef Bierbichle­r.
Foto: X Filme Von ihm stammt die Romanvorla­ge, er hat Regie geführt, er ist Hauptdarst­eller – im Mittelpunk­t: Josef Bierbichle­r.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany